Im Gespräch mit

Lars Hochmann

Wirtschaftswissenschaftler und Herausgeber des Buches economists4future

Lieber Herr Hochmann, was verstehen Sie unter transformativer Wissenschaft?

Transformative Wissenschaft ist ein Typ Wissenschaft, der sich darauf bezieht, reflektierte Veränderungen in der Welt stattfinden zu lassen. Es handelt sich um eine Wissenschaft, die mit einem klaren Transformationsanliegen an die Welt herantritt und dieses Anliegen verantwortlich gestaltet. Das heißt, transformative Wissenschaft ist eine Wissenschaft, die sich selbst als etwas Wirksames weiß. Alle Wissenschaften wirken in dieser Welt. Manche verantworten ihre Wirkungen, andere nicht, und transformative Wissenschaften sind solche, die auf ihre Wirkungen reflektieren und gemeinsam mit anderen Akteur*innen versuchen, diese Gesellschaft so zu gestalten, dass es besser wird. Und das besser ist natürlich eine Chiffre, die weder die Wissenschaft noch sonst jemand im Alleingang, sondern die nur in einem gemeinsamen Gespräch beantwortet werden kann, zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften. Man könnte auch sagen: Transformative Wissenschaft ist ein Projekt der Demokratisierung der Produktion von Wissen.

Foto © Uli Müller (Mekido) für CHG

Lars Hochmann, geb. 1987, ist transformativ arbeitender Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Plurale Ökonomie. Er lehrt und forscht an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung zu einer Theorie der Unternehmung, nachhaltigen Unternehmensstrategien sowie zu Politiken der Wahrheit in den Wirtschaftswissenschaften. Er betreibt den Wissenschaftspodcast Möglichkeitssinn, twittert unter @larshochmann und ist Herausgeber des druckfrischen Buchs economists4future.

Was ist der Hintergrund des von Ihnen herausgegebenen Buches economists4future?

Das Buch ist einer einfachen Beobachtung geschuldet. In den vergangenen anderthalb Jahren sind viele junge Menschen auf die Straße gegangen und für Dinge eingestanden, die in Teilen der Wissenschaft seit Jahrzehnten common sense sind. Innerhalb von recht kurzer Zeit hat sich die Initiative Scientists for Future gegründet und diesen politischen Willen der jungen Menschen als wissenschaftlich begründet und gerechtfertigt ausgewiesen. Wenn man sich diesen Diskurs von außen anschaut, stellt man mit Verwunderung fest, dass die Wirtschaftswissenschaften darin so gut wie gar nicht vorkommen. Wenn man sich öffentliche Statements von eher neoliberalen Thinktanks oder deren Lobbyverbänden anschaut, dann haben die wenig für diese jungen Menschen übrig außer Spott.

Das ist einerseits betrüblich, andererseits ist es aber auch nicht notwendig, weil wir eine ganze Reihe von wirtschaftswissenschaftlichen Strömungen haben, die Antworten liefern können auf die Fragen, die jetzt relevant werden. In dieser gesamten klimapolitischen Diskussion fehlt schlicht und ergreifend eine kluge, reflektierte wirtschaftswissenschaftliche Stimme. Aber im Grunde dreht sie sich um eine urökonomische Frage: Wie wollen wir uns als Gesellschaft versorgen? Wenn Sie sich nur mal vor Augen führen, wie da über die Ökonomie der Zukunft gesprochen wird – das ist im Grunde genommen das Gleiche wie jetzt, nur mit einem CO2-Preis. Da herrscht eine völlige Fantasielosigkeit in Bezug auf die Art, wie wir zusammenleben. Und das ist desto dramatischer, weil eine Transformation der Gesellschaft nur über eine Transformation der Wirtschaft führt.

Wir werden diese Gesellschaft nicht nachhaltig gestalten können, wenn wir nicht eine fundamentale Kehre in unserer Art des Wirtschaftens hinbekommen. Eine Netto-Null-Wirtschaft, die nur so viel CO2 ausstößt, wie sie auch wieder binden kann, ist nicht einfach dieselbe Wirtschaft nur mit weniger CO2. Da reden wir über grundlegend andere Organisationsformen und Unternehmensstrategien, über andere Arten des Wirtschaftens. Wir brauchen jetzt eine Wirtschaftswissenschaft for future, die dafür Antworten liefern kann. Das Buch economists4future ist der Versuch, Öffentlichkeit dafür zu schaffen, dass es schon jetzt andere Formen von Wirtschaftswissenschaft gibt und wir lieber denen Aufmerksamkeit schenken sollten, statt uns zum x-ten Mal erzählen zu lassen, die bessere Welt wäre das Ergebnis von vermeintlichen Preismechanismen. Nein, wir müssen sie gestalten – gemeinsam und reflektiert.

 

Wie erklären Sie sich diese Fantasielosigkeit der Wirtschaftswissenschaften, von der Sie gesprochen haben?

Den Ursprung der Fantasielosigkeit können Sie ideengeschichtlich gut nachzeichnen. Im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften geht es immer nur darum, ein abstraktes ökonomisches Problem zu lösen. Dieses ökonomische Problem wird betrachtet als der Umgang mit knappen Ressourcen, während es auf normativer Ebene darum geht, renditeorientiert immer mehr zu produzieren und immer mehr Gewinn zu machen. Damit würde dann angeblich das Wohl aller automatisch steigen. Das war das Versprechen, mit dem im 18. Jahrhundert ausgehend aus der Moralphilosophie die modernen Wirtschaftswissenschaften entstanden sind.

Und dieser eine Modus operandi hat sich verselbstständigt, sodass ein Denkstil entwickelt wurde, der immer nur im Rahmen von Verhältnissen bleibt, die Verhältnisse selbst aber nicht strittig stellt. Die Idee ist: Über Gewinnorientierung wird eine effiziente Organisation sichergestellt, sodass sich auf diese Art und Weise die Gesellschaft auf einem Pfad bewegt, auf dem es immer nur besser werden kann. Das ist die alte Fortschrittseuphorie der Aufklärung. Diese Idee von Fortschritt hat sich dann verschwistert mit technischen Möglichkeiten und eskaliert seitdem zunehmend. Nachgelagert sind dann Institutionen geschaffen worden, in denen schlicht und ergreifend Teile dieser Gesellschaft wahnsinnig reich geworden sind. Die haben extreme Interessen daran, dass es so weitergeht wie bislang – auch wenn immer offensichtlicher wird, dass uns das die Zukunft verstellt.

Selbst in der Pandemie dieser Tage ist nahezu permanent von einer »Rückkehr zur Normalität« die Rede, um nur ja nicht grundlegende Fragen zu stellen oder am Käfig zu rütteln. Da kommt also diese Ideenlosigkeit her: aus gesellschaftlichen Institutionen, die Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen sind. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft stehen in ganz enger Rückkoppelung. Die Wirtschaftswissenschaften sind schließlich fantasielos geworden als sie zu glauben begannen, sie seien eine Naturwissenschaft, die sich an vermeintlichen Gesetzen des Ökonomischen abarbeiten müsse. Solcher Wissenschaft ist es völlig egal, wohin es geht. Das ist inhaltlich unbestimmt, Hauptsache irgendwie gewinnorientiert. Wir sehen nur leider, dass diese renditeorientierte Bearbeitung von Problemen die Probleme selbst nicht bearbeitet, sondern immer nur die Symptome. Die Ursache selbst, die bleibt unangetastet, weil es am Fortbestand nun ein ökonomisches Interesse gibt. Es ist kein Zufall, dass Ökonom*innen mehrheitlich das Wort Kapitalismus fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

»Wir werden diese Gesellschaft nicht nachhaltig gestalten können, wenn wir nicht eine fundamentale Kehre in unserer Art des Wirtschaftens hinbekommen.«

Wie wirkt sich das auf die Wirtschaftswissenschaften aus?

Auf der Ebene von Fächern hat diese Ideenlosigkeit etwas zu tun mit disziplinärer Überspezialisierung, mit dem Fragmentieren von Fächern in immer weitere Subdisziplinen, also gewissermaßen mit der Gesellschaftslosigkeit der Wirtschaftswissenschaften auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite auch mit der Wirtschaftslosigkeit der Gesellschaftswissenschaften. Diese Form der akademischen Arbeitsteilung führt nicht dazu, dass wir in unserer Forschung an einen Punkt kommen, an dem wir tatsächlich Gesellschaften befähigen können, ihre (Re)Produktionsverhältnisse anders zu gestalten. Das führt dann immer nur dazu, dass wir große Begriffe in den Raum stellen, ohne sie, also vor allen Dingen in den Wirtschaftswissenschaften, gesellschaftstheoretisch zu unterfüttern. Vorsorgendes Wirtschaften, solidarische Ökonomie, Gemeinwohlökonomie, Postwachstum – all das ist ja kein Gesellschaftsentwurf. Es gibt viele Orte auf dieser Welt, die noch das brauchen, was wir heute Wachstum nennen würden. Andersherum können wir auch in einer solidarischen Ökonomie Massentierhaltung betreiben oder in Streubomben investieren. Die wirtschaftswissenschaftlichen Debatten müssen substanzieller werden.

Das hat damit zu tun, dass wir immer nur auf Ebene von Form oder auf kleinen Aspekten von diesen herumreiten, aber die gesellschaftstheoretische Bestimmung, also den Inhalt aus dem Blick lassen. Wer von Postwachstum redet, muss auch sagen, was das gesellschaftlich bedeutet. Dito für Care, für solidarische Ökonomie, auch sozial-ökologische Forschung. Das sind alles Blickrichtungen. Wenn wir das wissenschaftstheoretisch reflektieren, haben wir es hier mit Zugängen zu tun, mit Blickrichtungen, aber eine Blickrichtung ist ja noch keine Entwicklungsrichtung. Das ist ein Problem, das nach meiner Wahrnehmung in erster Linie mit fachlicher Überspezialisierung zu tun hat. Wer BWL studiert, lernt einzelwirtschaftliche Optimierung. Die Studierenden lernen aber nicht, darauf zu reflektieren, was es mit diesen Begriffen, die sie da benutzen, auf sich hat. Sie lernen immer nur mit Begriffen zu arbeiten, aber nicht über diese Begriffe nachzudenken. Und sie lernen auch nicht, was das für Wirkungen auf die Gesellschaft hat und wie überhaupt erst in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen diese Begriffe haben entstehen können. Das Ergebnis ist ein Zurückgeworfensein auf eine disziplinäre Grenze, über die dann aber nicht gesprochen wird – im Grunde ein Denkgefängnis.

 

Und aus diesen Beobachtungen entstand der Diskurs um transformative Wirtschaftswissenschaften?

All diese Diskussionen um transformative Wirtschaftswissenschaften sind auf den Weg gekommen als Krisenerfahrung mit dem eigenen Fach, quasi als Feststellung, dass man als Wirtschaftswissenschaftler*in ein Erbe antritt, das immens ist. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die industriellen Destruktivkräfte der vergangenen anderthalb Jahrhunderte diesen Planeten hingerichtet haben – darüber kann man nicht einfach so nonchalant hinweggehen und sagen: »Ich habe hiermit nichts zu tun.« Für mich ist der Diskurs um Transformative Wissenschaft weniger ein erkenntnistheoretisches Projekt. Für mich ist es eine Frage der Verantwortung von Wissenschaft. Und diese Verantwortung, die kann mir nichts und niemand abnehmen. Das hat etwas mit mir als Erkenntnissubjekt zu tun. Ich als Wissenschaftler werde von meinem moralischen Subjekt aufgefordert, etwas Anderes zu tun, weil es nicht egal ist, was und wie ich Wissenschaft betreibe. Das ist keine Frage, die in erster Linie zusammenhängt mit einem disziplinären Selbstverständnis. Das hat wenig zu tun mit Strukturen, in denen ich mich bewege, oder sonst etwas, sondern das ist der Ruf des moralischen Subjekts von Wissenschaftler*innen – selbstverständlich unter den je herrschenden Bedingungen.

»Ich als Wissenschaftler werde von meinem moralischen Subjekt aufgefordert, etwas Anderes zu tun, weil es nicht egal ist, was und wie ich Wissenschaft betreibe.«

Wie können Hochschulen Rahmenbedingungen schaffen, die transformative Wissenschaft unterstützen?

Hochschulpolitisch müssen wir Verhältnisse schaffen, die Ruhe zum Denken ermöglichen. Das heißt auf einer trivialen Ebene: Es macht mich nicht freier oder kreativer oder klüger, wenn ich von einer Befristung zur nächsten renne. Es macht mich auch nicht frei in meinen Gedanken, wenn ich nur dann berufen werde, wenn ich in bestimmten Zeitschriften publiziert habe. Dafür muss Grundfinanzierung auf eine andere Art und Weise stattfinden. Die Form von projektförmiger Wissenschaft ist mittlerweile eskaliert.

Was wir zudem brauchen, ist eine Pluralisierung von Laufbahnen. Momentan wird man entweder auf eine Professur berufen oder man ist im akademischen Mittelbau permanent damit beschäftigt, sich irgendwo nochmal eine neue halbe Stelle für bestenfalls drei Jahre, in der Regel aber nur wenige Monate einzuwerben. Das sind keine Verhältnisse, in denen man die Muße entwickelt, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, wo es gesellschaftlich hingehen kann. Das braucht Ruhe, und es braucht vor allen Dingen auch Sicherheit, nicht nur finanzieller Art, sondern auch Freiheit darin, wie ich forsche, wo ich publiziere. Da müssen Nuancen eingebaut werden für unterschiedliche Interessen, Leidenschaften und Anliegen. Diese Vielfalt von Laufbahnen braucht auch andere Indikatoren, wonach wir bemessen, was eigentlich wichtig ist für Wissenschaft. Wenn in Berufungskommissionen immer nur Punkte gezählt werden, dann führt das im Zweifel nicht dazu, dass Transformative Wissenschaften gestärkt werden. Die finden schlicht und ergreifend nicht dort statt, wo es viele Punkte gibt, weder was Drittmittel anbetrifft noch was Publikationen anbetrifft. Weniger wissenschaftlich sind sie deswegen natürlich nicht.

 

Welche Rolle spielen Publikationen in einer transformativen Wissenschaft?

Transformative Wirtschaftswissenschaften brauchen nicht einfach noch einen eigenen, abgeschotteten Diskurs. Sondern wir müssen versuchen, viel stärker auch andere Formen von wissenschaftlicher Dokumentation zu forcieren. Es gibt inzwischen ja Blogging, es gibt Podcasts – das sind aber alles Dinge, die in der herrschenden Wissenschaft eher eine Freizeitbeschäftigung sind. Damit wird man weder berufen, noch kriegt man irgendwo einen Zuschlag für ein Projekt. Das ist ja auch in Ordnung. Es muss nicht immer alles verzweckt sein, was wir tun. Es ist auch ein riesiges Privileg, Dinge einfach mal machen zu können, weil sie wichtig sind, ohne dass man daraus einen direkten Nutzen zieht. Die Frage ist nur: Wie können wir Verhältnisse schaffen, in denen Menschen nicht genötigt sind, permanent nur auf ihr Publikationsverzeichnis und auf ihre Drittmittelakquise zu schielen? Denn gegenwärtig ist das der Fall. Und das führt dann nicht unbedingt dazu, dass Dinge unternommen werden, nur weil sie wichtig sind. Die heutige Wissenschaft ist auf Karrierismus gebürstet.

Wir müssen uns überlegen, wie wir Wissenschaftler*innen die Möglichkeit geben können, sich in den transformativen Wissenschaften zu subjektivieren. Das beginnt dabei, dass wir verstärkt über hochschuldidaktische Fortbildungen nachdenken müssen. Es ist skurril und vermutlich ein Skandal, dass man heute nicht auf das eigene Bildungsverständnis reflektieren muss, um Hochschullehrer*in zu werden. Man muss sich auch nicht pädagogisch, didaktisch oder methodisch fortbilden. Es zählt immer nur Fachlichkeit, belegt durch Publikationen und Drittmittel. Das führt nicht dahin, dass wir tolle Studiengänge anbieten können und Menschen befähigen, etwas besser zu machen in dieser Welt. Wenn wir wissenschaftlichen Nachwuchs in den transformativen Wirtschaftswissenschaften haben wollen, brauchen wir aber solche Studiengänge und nachgelagert Orte der Weiterqualifizierung, das heißt der Promotion und so weiter.

»Wir müssen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit geben, sich in den transformativen Wissenschaften zu subjektivieren.«

All diese Punkte klingen nach sehr großen Fragen – wie kann ich als Nachwuchswissenschaftler*in an diesen strukturellen Veränderungen mitwirken?

Wissenschaft hat das große Privileg, sich selbst verwalten zu dürfen. Wir haben eine akademische Selbstverwaltung, die bisweilen recht träge ist. Aber wir sind autonom. Wissenschaft ist ein selbstbestimmtes Feld. Fast alles von dem, worüber ich gerade gesprochen habe, ist selbstgemacht. Berufungskriterien: selbstgemacht. Wo wir publizieren, was wir wertschätzen und anerkennen: selbstgemacht. Wie wir unsere Lehre organisieren, welche Themen wir beforschen, mit wem wir zusammen forschen – das können wir alles selbst entscheiden. Das heißt aber auch, dass sich Nachwuchswissenschaftler*innen wieder als wissenschaftspolitische Wesen subjektivieren müssen. Wir dürfen nicht einfach nur klagen und dann am Ende des Tages nicht im Fakultätsrat sitzen, nicht im Personalrat sitzen, uns nicht im Senat engagieren. Es gibt diese Institutionen, in denen wir eine andere Form von Wissenschaft auf den Weg bringen können. Dafür müssen wir nur hinreichend laut und mit hinreichend viel Beharrungskraft und Konfliktfähigkeit in die Auseinandersetzungen gehen und diese Konflikte dann auch austragen. Denn es gibt natürlich viele Menschen, gerade in diesen wissenschaftlichen Institutionen, die ein Interesse daran haben, dass es so weitergeht, wie es jetzt ist. Schließlich sind sie das Produkt dieser Verhältnisse und fühlen sich meistenteils ganz wohl darin. Aber Privilegien sind nun mal nichts, was man geschenkt bekommt. Das sind alles Errungenschaften, die man sich erstreiten muss.

Das ändert aber nichts daran: Wissenschaft ist eine Institution, die gestaltbar ist. Es gibt Dinge, die wir so schnell nicht geändert bekommen, so etwas wie das Hochschulrecht. Aber es gibt andere Dinge, die wir sehr schnell geändert bekommen. Jede Hochschule könnte selbst entscheiden, dass nur noch Menschen berufen werden, die sich 300 Stunden lang hochschuldidaktisch fortgebildet haben. Das ist überhaupt kein Problem. Das heißt aber auch, dass wir diesbezüglich in den Gremien aktiv werden müssen. Und das ist natürlich eine Zumutung für Nachwuchswissenschaftler*innen, weil die darauf getriggert werden, das nach Möglichkeit nicht zu tun, sondern ihre wenige verbleibende Zeit darauf zu verwenden, an ihren Texten zu schreiben, sich selbst zu optimieren. Aber dann sind wir wieder in einem Modus, in dem wir permanent das Problem reproduzieren oder immer nur an Symptomen herumdrehen, aber nicht die Ursachen beseitigen. In dem Moment, in dem ich in Verhältnissen bin, in denen ich mir so ein Engagement nicht erlauben kann, wird es natürlich schwierig, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Aber das bleibt eine Frage der Verantwortung derer, die darin aktiv sind, erfordert also auch Solidarität untereinander. Transformative Wissenschaften müssen sich stärker als bislang zu einem kollektiven Willen organisieren.

 

Ganz so leicht ist das aber für Studierende oder Nachwuchswissenschaftler*innen nicht – in den meisten akademischen Gremien haben die Professor*innen die Mehrheit.

Es ist auch nicht verkehrt, dass die da eine Mehrheit haben. Solche Institutionen werden auch gerade dadurch arbeits- und leistungsfähig, dass sie eine gewisse Form von Kontinuität haben und nicht in jeder Sitzung das Grundsätzliche verhandeln. Aber diese Kontinuität darf nicht zu einer völligen Starrheit verkommen. Man muss sich natürlich im Klaren sein, dass die Etablierung transformativer Wissenschaften nicht damit getan ist, dass ich einmal die Hand hebe und einen Antrag stelle, dass wir doch jetzt etwas ändern mögen. Das ist ein politischer Aushandlungsprozess, bei dem man sich fragen muss: Mit welchen Mitteln mache ich das? Mache ich das nur, indem ich in den Gremien sitze und da gegebenenfalls einen Antrag zur Diskussion stelle, der dann abgeschmettert wird? Oder versuche ich auf eine andere Weise Öffentlichkeit für das Problem zu schaffen und Kräfte zu bündeln? Das erhöht dann zunehmend auch den Rechtfertigungsdruck bei denen, die zum Beispiel studentisch eingebrachte Themen vorher so nonchalant abgeschmettert haben. Das ist nichts, was von heute auf morgen passiert. Es ist nicht die große Revolution, wo wir morgen aufwachen und alles ist anders. Institutionengestaltung ist reformatorisch, geschieht also über kleine Schritte. Aber diese Institution Wissenschaft lässt sich reformieren. Wir können sie verändern, aber wir müssen aktiv werden. Wir müssen sie gestalten. Wenn wir sie nicht gestalten, gestalten andere sie. Beziehungsweise wir gestalten sie beiläufig mit, indem wir sie reproduzieren.

 

»Wissenschaft ist eine Institution, die gestaltbar ist. Das heißt aber auch, dass wir diesbezüglich in den Gremien aktiv werden müssen.«

Was sollten junge Menschen bei der Planung ihrer wissenschaftlichen Laufbahn beachten?

Unter den herrschenden Verhältnissen ist Wissenschaft eine Hochrisikoentscheidung. Auf eine Professur berufen zu werden, hat etwas damit zu tun, Glück zu haben oder sich eingepasst zu haben. Das Wissenschaftssystem ist aber viel mehr als nur ein Anstellungsverhältnis an einer Hochschule. Mitwirken kann man auch von anderen Stellen aus. Da reden wir über Ministerien. Wir reden über Stiftungen. Wir reden über das Verlagswesen. Wir reden über Unternehmen, die Forschung und Entwicklung betreiben. Es gibt viele Eingriffsstellen und Möglichkeiten, wie junge Menschen ihren inhaltlichen und intellektuellen, aber auch ihren politischen Interessen gerecht werden können. Da ist mein Rat ganz persönlich: Schauen Sie, wo es Institutionen gibt, die für Sie eine attraktive biografische Perspektive auftun und von wo aus Sie dann Ihren Bannstrahl auf diese Wissenschaft richten können, um etwas zu verändern. Es muss nicht immer die Professur sein. Das meine ich auch mit der Pluralisierung von Laufbahnen innerhalb der Wissenschaft. Aber letztlich braucht es natürlich auch mehr Professuren in diesem Feld.

 

Was möchten Sie jungen Menschen zum Abschluss mit auf den Weg geben?

Wissenschaft kann einen Unterschied machen, wenn Wissenschaftler*innen einen machen.

Interview: Mai 2020