Im Gespräch mit

Christine Ahrend

Vizepräsidentin für Forschung, Berufungsstrategie & Transfer an der TU Berlin

Liebe Frau Ahrend, Sie haben acht Jahre in der Industrie geforscht. Welche Lernerfahrungen haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?

Erstens, dass man gesellschaftliche Auswirkungen noch breiter betrachten muss als es damals in der Technologiefolgenabschätzung geschah. Dass also aus den Erkenntnissen mehr kommen muss als lediglich anständig vorbereitetes Wissen für die Menschen. Es muss auch einen strategischen Prozess geben. Das bedeutet, dass man den Prozess begleitet und nicht nur das Wissen jemandem zur Verfügung stellt, sich umdreht und mit freundlichem Gruß geht. Man muss dabeibleiben. Und ich habe zweitens gelernt, dass die Proband*innen, wie wir sie nannten, uns extrem viel Wissen bereitgestellt haben und hoch motiviert waren, mit den Expert*innen zu arbeiten. Sie haben sich regelrecht gefreut, dass man sie gefragt und ernst genommen hat. Dieses Wissen war ein großes Geschenk.

Christine Ahrend ist Vizepräsidentin für Forschung, Berufungsstrategie & Transfer an der TU Berlin und versucht dort und in der Berlin University Alliance, das Thema Transdisziplinarität sowie Wissens- und Technologietransfer zu fördern (Profil). Hier geht es zum Themenportal Transfer der TU Berlin. Zudem war Christine Ahrend acht Jahre in der Industrieforschung, bevor sie Lehrstuhlinhaberin am Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung wurde.

Wie haben Sie den Übergang aus der Industrieforschung an die Hochschule erlebt?

Ich habe mich doch etwas gewundert, wie wenig diese Form zu denken und zu arbeiten dort bekannt war, vielleicht auch immer noch ist. Und was noch schlimmer war, wie wenig Neugierde oder wenigstens Bereitschaft da war, sich mit diesem Arbeiten auseinanderzusetzen. Ich habe eine große Distanz gespürt zwischen Wissenschaft und der nicht-wissenschaftlichen Welt. Das fand ich nicht nur überholt, ich fand es auch wenig klug, weil einfach so viel Wissen verloren geht. Die noch so erfolgreichsten Wissenschaftler*innen wissen nun mal nicht alles auf der Welt und es gibt immer Perspektiven, die man nicht im Blick hat. Und es ist so einfach, dieses Wissen der nicht-wissenschaftlichen Welt zu integrieren. Also zumindest, die Menschen erstmal zur Mitarbeit zu gewinnen. Sie im Prozess zu halten, ist ein anderes Thema.

Entsprechend habe ich mein Fachgebiet aufgebaut und versucht, diese nicht-akademischen Perspektiven zu integrieren. Dabei habe ich erkannt, dass die Fördermittelgeber Partizipation manchmal gar nicht für nötig hielten und wenn ja, noch nicht das Bewusstsein oder die Erfahrung hatten, wie viel Zeit und damit Geld es kostet. Explorative Studien haben oft eine kurze Feldphase, im Vergleich zu statistischen Feldphasen, aber die Auswertung dauert sehr, sehr lang und das Ergebnis ist ungewiss. Es kann auch passieren, dass man an manchen Stellen merkt, dass man die falschen Fragen gestellt hat. Dann muss man eben nochmal ran. Diese Flexibilität, eventuell nochmal einen Zwischenprozess einzubinden oder auch mit einem bekannten Ergebnisfeld, aber mit unbekannten Antwortfeldern umzugehen, war sehr, sehr schwierig.

 

Wie sind Sie auf das Thema Transdisziplinarität gekommen?

Als Vizepräsidentin für Forschung wollte ich versuchen, die TU Berlin dahingehend zu öffnen, dieses Feld zu akzeptieren. Es müssen ja nicht alle machen. Ich kann verstehen, dass man nicht dauernd partizipativ unterwegs sein will. Man will sich auch mal auf das eigene Thema fokussieren. Mir ging es darum, dass beide Zugänge gleichgewichtig in der TU leben dürfen und man wahrnimmt: Das sind verschiedene Beine, auf denen eine Hochschule stehen sollte.

Zuletzt war ich auch fest davon überzeugt, dass die Wissenschaftler*innen in diesen Forschungsprozessen für sich sehr viel lernen. Dass also das Projekt bereichert wird, aber dass sie auch selbst ganz viel mitnehmen. In dem Moment, wo ich etwas erkläre, merke ich, ob ich es schon verstanden habe. Es schärft also den eigenen Zugang, das ist im interdisziplinären Arbeiten ganz genauso. Bei Transdisziplinarität gilt das nun auf dem gesellschaftlichen Niveau. Und last but not least: Ich habe es auch ganz wirtschaftlich gedacht. In diesen Arbeiten werden zwangsläufig auch viele neue Forschungsfragen entwickelt durch den Austausch mit der nicht-wissenschaftlichen Gesellschaft. Man bekommt also auch noch neue Ideen, ohne, dass man lange suchen muss. Dieses Potenzial wollte ich nutzen.

»Transdisziplinäres Arbeiten ist für mich wie Tango: Alle haben ihren eigenen Schwerpunkt, wissen, was sie können, agieren, bieten an, blocken ab, machen mit – Tango ist ein sehr dialogisches Tanzen. Es geht um den Fluss.«

Was verstehen Sie unter Transdisziplinarität?

Transdisziplinär heißt für mich, aus den Wissenschaftsdisziplinen herauszutreten und idealerweise von Anfang an, wenn sich ein Problem ergibt, in der Wissenschaft oder in der Gesellschaft, idealerweise auf beiden Seiten gleichermaßen, eine Forschungsfrage zu formulieren und den Forschungsplan aufzustellen. Alle bleiben in ihren Feldern, sowohl die Wissenschaftler*innen als auch die Laien-Experten*innen mit ihren Schwerpunkten und Fähigkeiten, aber sie arbeiten von Anfang an zusammen. Das ist wie Tango tanzen. Beim Tango müssen beide ihren Schwerpunkt haben. Sobald eine*r den Schwerpunkt verliert, ist es vorbei mit den Figuren. Im Gegensatz dazu haben Sie bei den klassischen Standardtänzen den Drehpunkt zwischen den beiden Personen. Da hat man also einen gemeinsamen Schwerpunkt. Transdisziplinäres Arbeiten ist für mich wie Tango: Beide haben ihren eigenen Schwerpunkt, wissen, was sie können, agieren, bieten an, blocken ab, machen mit – Tango ist ja auch ein sehr dialogisches Tanzen. Es geht um den Fluss.

 

Wie grenzen Sie Transdisziplinarität von Transfer ab?

Technologietransfer ist meistens eher multidisziplinäres Arbeiten. Da tanzt man keinen Tango, sondern da macht jede*r seins und man führt es erst am Schluss oder dazwischen temporär zusammen, aber man geht selten gemeinschaftlich voran. Wir unterstützen mehr und mehr die Start-up Szene, wo Produkte sehr früh schon auch mit potenziellen Kund*innen entwickelt werden. Das ist in der Hinsicht vielleicht auch ähnlich zu Transdisziplinarität. Ich gehöre zu denen, die Transfer multidirektional denken, dass man also nicht nur Wissen nach außen gibt, sondern auch von außen Impulse aufnimmt. Das finde ich sehr schön. Das wird viel verlangt, man hört es überall und liest es auch viel. Leider gibt es noch keine Forschungsgelder dafür. Die Forschungsprogramme sind darauf noch nicht ausgerichtet. Das ist ein großes Problem für die Hochschulen.

»Ich möchte keine finalisierte Wissenschaft in der Art, dass sie nur noch Definiertes tun darf oder nicht. Das finde ich sehr gefährlich.«

Transdisziplinarität wird oft gegen die Freiheit der Wissenschaft ausgespielt. Wie sehen Sie dieses Spannungsfeld?

Man muss durchaus aufpassen, dass die Wissenschaft frei bleibt und nicht zur Auftragsforschungsabteilung der Gesellschaft wird. Das wird schnell missverstanden, gerade jetzt, wo die Wissenschaft sich mehr rechtfertigen muss. Die Gesellschaft ist manchmal sehr misstrauisch der Wissenschaft gegenüber, auch mit gutem Grund. Aber das Gegenteil ist auch nicht richtig, also dass die Wissenschaft jetzt nur noch das macht, was die Gesellschaft sich wünscht. Dann gibt es auch keinen Fortschritt. Es muss auch möglich sein, etwas zu erforschen, was keinen Sinn macht, was Misserfolge produziert, was vielleicht auch falsch ist, vielleicht auch politisch falsch ist. Dann weiß ich wenigstens hinterher, was richtig ist.

An der Stelle entzündet sich meistens die Diskussion. Hätte zum Beispiel die Atombombe erforscht werden dürfen oder nicht? Ja, ich finde, sie hätte erforscht werden dürfen, aber nicht benutzt. Man hätte mit diesem Wissen etwas Anderes machen können. Das Wissen an sich finde ich völlig richtig und auch genial. Es gab dann Menschen, die wissentlich dieses Wissen für eine Atombombe genutzt haben. Sie hätten es nicht tun müssen. Ich möchte keine finalisierte Wissenschaft in der Art, dass sie nur noch Definiertes tun darf oder nicht. Das finde ich sehr gefährlich. Deswegen noch einmal dieses Tango-Beispiel: Wissenschaft ist Wissenschaft und sie darf auch Nein sagen, ebenso, wie die Gesellschaft auch Nein sagen darf.

 

Wie war die Dynamik an der TU Berlin, als Sie das Thema Transdisziplinarität stärker setzen wollten?

Die ersten vier Jahre waren sehr mühsam. Es gibt natürlich viele Fachgebiete, die in dem Bereich schon arbeiten. Die haben wir gebündelt und das einfach durchs Tun nach vorne gebracht. Mein Eindruck ist, dass Transdisziplinarität inzwischen in weiten Teilen der TU Berlin bekannt ist und zumindest nicht mehr belächelt wird. Schöner wäre es, wir würden ein, zwei große Forschungsverbünde bekommen. Das ist das, was in der Wissenschaftsgemeinde zählt, und damit könnte man zeigen, dass Transdisziplinarität wichtig ist. Das ist aber leider nicht so einfach. Auch die EU, die ja viele Forschungsprogramme mit dem Begriff Transdisziplinarität verknüpft, hat zu selten Gutachter*innen, die das abprüfen. Wir sind noch lange nicht so weit, dass es wirklich ernst genommen wird. Es wird schon benannt, es wird nicht mehr zur Seite gewischt, aber auch noch nicht richtig bedient. Und so ist es an der TU eben auch.

 

»Ich weiß nicht, wie lange das Feld Transdisziplinarität und Wissens- und Technologietransfer noch gut dasteht, wenn nicht bald wirklich Förderprogramme kommen, die das ernsthaft verlangen.«

Also fordern Sie auch strukturelle Veränderungen auf Seiten der Forschungsförderung?

Der Berlin University Alliance steht das Thema Transdisziplinarität in der Exzellenzstrategie gerade gut zu Gesicht. Ich weiß aber nicht, wie lange dieses ganze Feld Transdisziplinarität und Wissens- und Technologietransfer noch gut dasteht, wenn nicht bald wirklich Förderprogramme kommen, ich will gar nicht Forschungsprogramme sagen, die das ernsthaft verlangen. Wegen mir mit knallharten Meilensteinen, Berichten und Lessons Learned. Erst dann kann man feststellen, ob dieses Arbeiten und Forschen für Wissenschaft und Gesellschaft wirklich etwas bringt. Ob wir damit mehr zueinander kommen und sich bestimmte Entwicklungen dann entweder schneller zeigen oder langsamer, aber dafür dann brauchbarer. Wenn wir das hätten, dann hätte man auch keinen Erklärungsnotstand mehr. Dann wäre es im Wissenschaftssystem drin.

Ähnliches gilt für die Hightech-Strategie der Bundesregierung. Die ist erstmal sehr spannend. Aber dort wird Technologie mit viel Geld gepusht, damit sie in den Markt kommt. Aber wo ist der Markt? Wer ist der Markt? Dort wird ein lineares Modell der Inventionsgenerierung unterstützt, das es gar nicht gibt, und pure Technologieentwicklung ohne Einbindung von anderen Bereichen der Gesellschaft. Das liegt aber nicht an den Menschen, die daran arbeiten, sondern an den Strukturen.

 

Sie sind an der TU Berlin auch für Berufungen zuständig. Welche Rolle spielen Transdisziplinarität und Transfer in diesem Bereich?

Wenn sich ein*e Professor*in an einer Hochschule bewirbt und sagt: »Ich bin in der Forschung nicht schlecht und in der Lehre auch ganz gut. Aber ich habe ganz tolle Sachen im Transfer gemacht.« – welche Professur wird besetzt, weil jemand gut im Transfer war? Bestenfalls noch, wenn jemand viele Drittmittel eingeworben hat. Das meine ich aber nicht, sondern diese langwierigen Prozesse, die man nicht unbedingt in monetären Dingen bewerten kann. Mit dem Beispiel will ich sagen, dass Wissens- und Technologietransfer für die Wissenschaftler*innen bisher noch gefährlich ist, wenn sie in ihrer Karriereentwicklung sind, weil sie in der Zeit nicht das bereitstellen können, was von ihnen erwartet wird. Und dementsprechend sind die Kämpfe in der Hochschule. Die sind nicht böse, aber es geht um Verteilung, es geht um Reputation, es geht um das, was im Wissenschaftssystem Wertschätzung erfährt. Da können wir jetzt die Türen des Wissenschaftssystems aufmachen, aber irgendwann muss es eben auch möglich sein, sich mit diesem Thema im Wissenschaftssystem beruflich zu entwickeln.

»Wer später im Wissenschafts- und Forschungsfeld arbeiten möchte, sei es an der Hochschule oder außerhalb, sollte Gefühl und Neugierde nachgehen.«

Wie groß ist der Einfluss einer einzelnen Hochschule auf diese Dynamik?

Wir haben jetzt bei Berufungen Transfer im Ausschreibungstext stehen, aber auch noch nicht lange. Wie das geprüft wird, ist noch etwas Anderes. Und es wird bestimmt niemand berufen, der*die gut im Bereich Transfer und Lehre ist, aber überhaupt nicht gut in Forschung. Das macht auch keinen Sinn. Also die Forschung steht schon vorne. Aber auch hier finde ich: Es muss eine Einheit sein aus Forschung, Lehre und Transfer. Es kann auch gut sein, dass ein Fachgebiet oder ein Lehrstuhl ohne Transfer gefüllt werden soll. Wenn das vorher definiert ist, finde ich das völlig in Ordnung. Aber es muss eben definiert sein. Und wenn ein Schwerpunkt auf Transfer gesetzt wird, muss der*die Kolleg*in auch eine Chance haben, da zu reüssieren. Das ist ähnlich wie im Bereich Lehre.

 

Was möchten Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben?

Wenn Sie im deutschsprachigen oder europäischen Raum wissenschaftliche Karriere machen wollen, sollten Sie mehrgleisig fahren. Sie sollten sich in einer Disziplin gut verankern und vernetzen, dort auf Tagungen gehen, in Netzwerken aktiv sein, veröffentlichen, kurz: sichtbar werden. Aber gleichzeitig sollten Sie ein, zwei Disziplinen darum herum im Blick behalten und auch dort aktiv sein, je nachdem, wie Sie es gestalten können. Ob das nun in der Freizeit ist, beruflich, im Studium oder danach, ist eigentlich egal. Meines Erachtens ist die Multidisziplinarität wichtig, um beruflich weiterzukommen und um sich auch Freiheitsgrade zu erhalten. Aber man braucht in unserem Wissenschaftsraum immer eine Disziplin, zu der man gehört. Sonst gibt es, überspitzt gesagt, keine Gutachter*innen für einen. Anders ist es im angloamerikanischen Raum, da ist man offener für Interdisziplinarität.

Wenn ich es auf den Punkt bringen müsste: Wer später im Wissenschafts- und Forschungsfeld arbeiten möchte, sei es an der Hochschule oder außerhalb, sollte dem Gefühl und seiner*ihrer Neugierde nachgehen. Das Wichtigste ist die intrinsische Motivation und die Neugierde auf das, was man tun möchte. Und den Mut zu haben, sich ab und zu vom Mainstream zu entfernen. Man arbeitet nicht nur fürs Hier und Jetzt, sondern eben auch fürs Übermorgen.

Zuletzt: Wenn man mal scheitert oder Misserfolge hat, ist das fürchterlich, aber das sind oft im Laufe der Zeit die wichtigsten Erfahrungen im Leben. Man lernt sehr viel über sich und sein Tun. Also auch wenn Sie mal im persönlichen Karriereblues sind, würde ich Sie ermuntern, nach vorne zu gehen und aus Ihren Kräften zu schöpfen – das beflügelt. Geben Sie also nach Möglichkeit nicht auf. Wenn man etwas will, dann bekommt man es auch. Man hat dann auch die nötige Energie, sich die passenden Themen zu suchen. Und das Wichtigste ist die Freude am Tun!

 

Interview: Mai 2020