Die Selbsttransformation der Wissenschaft

Forderungen für eine Etablierung transformativer Wissenschaft im Wissenschaftssystem

Das Programm einer Wissenschaft, die sich aktiv in gesellschaftliche Transformationsprozesse im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung einbringt, bedingt einen grundlegenden Wandel in unserem Verständnis von Forschung und Lehre. Da sie damit quer zu zahlreichen Aspekten des gegenwärtigen Wissenschaftssystems läuft, erfordert eine transformative Wissenschaft zudem einen Wandel der wissenschaftlichen Institutionen selbst. In diesem Text geht es daher eingehender um die Frage, was sich auf struktureller und institutioneller Ebene ändern muss, um eine transformative Wissenschaft im Wissenschaftsbetrieb zu etablieren. Dabei geht es nicht um eine Verdrängung konventioneller Forschung, sondern um eine neue Kultur des Nebeneinanders in gegenseitiger Wertschätzung. Keineswegs muss jede*r Wissenschaftler*in und jede Institution in Zukunft transformativ lehren und forschen – aber wer es möchte, sollte es können und darin bestmöglich unterstützt werden.

Um transformative Wissenschaft im Wissenschaftssystem zu etablieren, sind die Rahmenbedingungen in sechs Bereichen wichtig:  Transformative Wissenschaft erfordert einen Wandel in 1) Forschung und 2) Lehre. Daher sind die in diesen Bereichen vorherrschenden Normen und Praktiken entscheidend. Um wirksam werden zu können, benötigt transformative Wissenschaft (wie auch jede andere Form von Wissenschaft) zudem 3) Ressourcen (Makroebene), 4) Institutionen wie Hochschulen oder Forschungsinstitute und deren Governance (Mesoebene) und 5) Wissenschaftler*innen (Mikroebene). Und zuletzt zeichnet sich transformative Wissenschaft in besonderer Weise durch die aktive Rolle aus, die sie in der 6) Interaktion mit gesellschaftlichen Akteuren einnimmt. Um hier eine gelingende Zusammenarbeit zu ermöglichen, müssen wir daher auch die Situation der gesellschaftlichen Akteure betrachten. Im Folgenden stellen wir zentrale Forderungen in diesen sechs Bereichen vor.

Abbildung 1: Überblick über die sechs Bereiche, in denen die Rahmenbedingungen für die Etablierung einer transformativen Wissenschaft gesetzt werden (eigene Darstellung).

Im Bereich der Forschung geht es zunächst darum, die Methoden und Qualitätskriterien von transformativer Forschung als jungem Forschungsfeld weiterzuentwickeln (Tabelle 1). Dies ist entscheidend, um ihr Ansehen in der Wissenschaftsgemeinschaft zu erhöhen. Um das Feld transformativer Forschung für Nachwuchswissenschaftler*innen attraktiv zu machen, muss zum einen das Reputationssystem um typische Leistungen transformativer Forschung (wie die Beteiligung gesellschaftlicher Akteur*innen) erweitert werden. Zum anderen müssen auch mehr Stellen für inter- und transdisziplinäre Wissenschaftler*innen geschaffen sowie Laufbahnen in dem Sinne pluralisiert werden, dass der bisherige Weg zur Professur nicht die einzig mögliche Option ist. Auch sollte es erleichtert werden, phasenweise oder parallel zur Forschung Erfahrungen in der Praxis zu sammeln. Da sie Lernende dazu befähigen kann, Wandel aktiv mitzugestalten, gilt es zudem, den Stellenwert der transformativen Lehre im Vergleich zur Forschung zu erhöhen.

Tabelle 1: Forderungen im Bereich Forschung. Die konkreten Maßnahmen sind ausgewählte Beispiele und werden im Text nicht näher diskutiert.

Für die Lehre selbst wird gefordert, die Kompetenzen für transformatives Wirken (wie Moderations- oder Problemlösungskompetenz) durch geeignete Lehr- und Lernformate zu fördern (Tabelle 2). An Universitäten erwerben Studierende vor allem Systemwissen. Transformative Lehre kann dieses um Ziel- und Transformations- sowie Methodenwissen ergänzen. Statt Studierende nur für den Arbeitsmarkt fit zu machen, hat transformative Lehre zudem den Anspruch, kritisch und systemisch denkende Persönlichkeiten zu bilden. Diese drei Aspekte (Kompetenz- und Wissenserwerb sowie Persönlichkeitsbildung) sollten vermehrt in bestehende Lehrpläne eingebaut werden. Außerdem braucht es aber ein größeres Angebot an Studiengängen und Hochschulen, die gänzlich im Sinne transformativer Lehre gestaltet sind.

Tabelle 2: Forderungen im Bereich Lehre.

Wie jede Art der Wissenschaft braucht auch transformative Wissenschaft Ressourcen (Tabelle 3). Da sie bisher in der Forschungsförderung nur eine stark untergeordnete Rolle spielt, sollten die Fördermittel für transformative Wissenschaft stark erhöht werden. Dies kann zum einen über gezielte Förderprogramme geschehen, sollte aber auch das Einbringen von Aspekten transformativer Wissenschaft in bestehende Programme umfassen. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass transformative Wissenschaft ein Nischenphänomen bleibt, während der konventionelle Wissenschaftsbetrieb weitergeführt wird wie bisher. Um einen übermäßigen Einfluss der Wirtschaft auszugleichen, sollte die Ausgestaltung von Forschungsprogrammen transparent und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft geschehen. Diese Einbeziehung sollte auch zahlenmäßig ernst gemeint sein und nicht nur einige wenige Vertreter*innen umfassen, die letztlich keinen echten Einfluss haben.

Tabelle 3: Forderungen im Bereich Ressourcen.

Im Bereich der Institutionen und Governance betreffen die Forderungen das ganze Spektrum der Akteure (Tabelle 4). Transformative Wissenschaft braucht eine Vielfalt in ihren Denkansätzen. Universitäten und Fachhochschulen sollten daher Pluralität und kritische Positionen in Forschung und Lehre erhalten, um deren Vereinheitlichung entgegenzuwirken, wie sie beispielsweise in den Wirtschaftswissenschaften zu beobachten ist. Die nationalen Forschungsgemeinschaften können wichtige Impulse für eine transformative Wissenschaft geben. Dafür sollten sie neben den bereits vorhandenen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Kapazitäten vermehrt Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften stärken. Sowohl Hochschulen als auch Forschungsgemeinschaften sollten Nachhaltigkeit auch in ihrem direkten Einflussbereich, nämlich dem eigenen Betrieb, zur Maxime machen.

Die sogenannten freien Institute (wie die Ecornet-Mitglieder) liefern seit ihrer Gründung wichtige Beiträge im Sinne einer transformativen Wissenschaft. Da sie zu einem großen Teil drittmittelbasiert arbeiten, können sie allerdings keine langfristigen Kapazitäten aufbauen, zum Beispiel in der Weiterbildung von Wissenschaftler*innen. Um das zu ändern, sollten sie in Teilen grundgefördert werden. Und um die Kapazitäten transformativer Wissenschaft noch weiter auszubauen, sollten zudem weitere Institutionen und Infrastrukturen (wie Reallabore) geschaffen und langfristig unterstützt werden. Zuletzt sollten sich die bestehenden Akteure besser vernetzen, um die Impulse von Pionierinstitutionen zu einer breiteren Diffusion zu bringen.

Tabelle 4: Forderungen im Bereich Institutionen und Governance.

Transformative Wissenschaft wird von Wissenschaftler*innen betrieben (Tabelle 5). Um durch ihre Forschung transformativ in der Gesellschaft wirken zu können, benötigen sie Ziel- und Transformationswissen. Diese sind aktuell vor allem in Universitäten noch weit weniger vorhanden als Systemwissen und sollten entsprechend gefördert werden. Dabei können sich Universitäten einiges von Fachhochschulen abschauen, wo bereits viel Handlungswissen vermittelt und produziert wird. Transformative Forschung und Lehre verlangen zudem andere Kompetenzen, als die meisten Wissenschaftler*innen insbesondere im universitären Studium und durch ihre eigene Praxis erlernt haben. Daher sollten Angebote zu Weiterbildung, Mentoring und Beratung für interessierte Wissenschaftler*innen geschaffen werden.

Eine zentrale Rolle kommt den in der Wissenschaftsgemeinschaft vorherrschenden Einstellungen gegenüber transformativer Wissenschaft zu. Ziel ist eine Kultur der Wertschätzung für transformative, aber auch von Amateur*innen betriebene Wissenschaft. Wenn diese nicht mehr als randständig oder keine echte Wissenschaft betrachtet, sondern schlicht als andere Form von Wissenschaft ernst genommen werden, ist schon viel gewonnen. Dafür wäre es auch hilfreich, wenn Wissenschaftler*innen (egal, in welchem Bereich) regelmäßig ihr eigenes Wissenschaftsverständnis reflektierten, zum Beispiel im Hinblick auf den gesellschaftlichen Einfluss der eigenen Forschung oder die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Um den Erfahrungsaustausch zu verbessern und nach außen gestärkt auftreten zu können, sollte sich die Gemeinschaft transformativer Wissenschaftler*innen weiter vernetzen.

Tabelle 5: Forderungen im Bereich Wissenschaftler*innen.

Im Hinblick auf die Interaktion mit gesellschaftlichen Akteuren darf nicht vergessen werden, dass die Anforderungen, die Beteiligungsprozesse mit sich bringen, auch für diese Akteure oft noch ungewohnt sind. Dementsprechend muss der Aufbau von Kapazitäten, um an transformativen Forschungs- und Lehrprozessen mitzuwirken, gefördert werden. Dies betrifft zum einen finanzielle Ressourcen, um zum Beispiel Stellen für Referent*innen zu schaffen, aber auch die Ausbildung eines grundsätzlichen Verständnisses wissenschaftlicher Abläufe, welches für die Mitgestaltung von Wissenschaft wichtig ist. Derartige Förderangebote sollten sich an das ganze Spektrum von Akteuren (wie zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmen oder Verwaltungen) richten und gegebenenfalls spezifisch angepasst werden. Wichtig ist auch, gezielt diejenigen Gruppen anzusprechen, die in Beteiligungsprozessen häufig unterrepräsentiert sind. Mit Blick auf den größeren Kontext transformativer Wissenschaft muss sich letztlich auch auf gesellschaftlicher Seite die Erwartungshaltung gegenüber der Wissenschaft ändern: Wissenschaft liefert nicht einfach die Lösung für bestehende Probleme, und auch gesellschaftliche Akteure müssen dazu bereit sein, sich selbst in die Wissensproduktion einzubringen.

Tabelle 6: Forderungen im Bereich Interaktion mit gesellschaftlichen Akteuren.

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Dieser Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch Draußen ist es anders. Auf neuen Wegen zu einer Wissenschaft für den Wandel. Mehr Infos hier.