Im Gespräch mit

Silja Graupe

Mitgründerin und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung

Liebe Frau Graupe, was macht transformative Wissenschaft für Sie aus?

Eine transformative Wissenschaft begegnet fundamental unsicheren Zeiten und Situationen mit einer verantwortungsbewussten und zugleich befähigenden Haltung. Sie ist somit nicht nur eine verstehende, sondern auch eine befähigende Wissenschaft, die Leuten dabei hilft, ihre eigenen Wirklichkeiten reflektiert und verantwortungsbewusst zu gestalten. Das gelingt allerdings nur, wenn sich eine transformative Wissenschaft als Teil gelebter sozialen Bezüge und somit selbst als Teil von gesellschaftlichen Transformationsprozessen versteht. Damit ist eine transformative Wissenschaft eine reflexive Wissenschaft, mit der ein starkes Bildungsanliegen einhergeht. Transformativ wirkt sie schon dann, wenn sie die stillschweigenden Regeln des Denkens unserer Gesellschaft, aber auch unserer Wissenschaften wieder für alle versprachlicht und damit verhandelbar macht. Das mag kompliziert klingen, ist es aber nicht: Man muss sich nur tatsächlich mit der Wirklichkeit beschäftigen. Themenorientiert, gegenstandsorientiert und ohne disziplinäre Abschottungen.

Silja Graupe ist Mitgründerin und Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Sie hat dort die Professur für Ökonomie und Philosophie inne und ist Leiterin des Instituts für Ökonomie (Profil). Sie vertritt in Forschung und Lehre den Standpunkt, dass die Ökonomie gegenwärtig von einer »geistigen Monokultur«, das heißt einem dogmatischen Mainstreamdenken, durchsetzt ist. Zuletzt erschien von ihr »Denken in der Krise«.

Damit geht ein starker Wechsel des Rollen- und Selbstverständnisses einher – weg von einer Expert*innen-Rolle hin zu einer unterstützenden, befähigenden Funktion. Braucht es einen kulturellen Wandel des Selbstverständnisses?

Die bisherige Idee der Expertise beruht darauf, dass Wissenschaftler*innen einen sicheren Standpunkt haben, von dem aus sie wie mit einem Auge Gottes von außen beobachten und beurteilen können, ohne mit Menschen zu reden, sich auf sie einzulassen und ihre eigenen Wirkungen in der Gesellschaft zu reflektieren. Ich würde nicht sagen, dass so eine Wissenschaft überhaupt keinen Sinn macht. Aber wenn sie verabsolutiert wird und dies gar als »strenge Objektivität« gefeiert wird, dann funktioniert das nicht. Junge Menschen werden so eher verbildet als gebildet.

Zu uns an die Cusanus Hochschule kommen etwa viele Ökonomie-Absolvent*innen, die sich engagieren wollen, sei es, weil sie globale Ungerechtigkeiten erlebt haben, weil sie ihre Berufspraxis hinterfragen oder sich bei der Fridays for Future-Bewegung engagieren. Nach einem normalen VWL-Studium haben sie oft sogar ihre eigenen Fragen verloren, und zwischen der erlernten Theorie auf der einen und ihrer Praxis und Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite klafft eine riesige Lücke. Engagement, so fühlen sie, wurde ihnen eher systematisch abtrainiert. Das meine ich mit »verbilden«.

Wenn wir es als Bildungsinstitutionen nicht schaffen, die gestaltende Energie junger Menschen aufzunehmen und sie zu befähigen, konstruktiv damit umzugehen, dann kommt es zu viel Frust. Viele Möglichkeiten und Potenziale versiegen und werden nicht fruchtbar gemacht. Oder es kommt zu Radikalisierungen, weil konstruktive Wege zur Veränderung nicht zu bestehen scheinen. Von daher hat Transformative Wissenschaft für mich sehr viel mit einer Änderung des gängigen Rollenverständnisses von Wissenschaftler*innen, insbesondere von Ökonom*innen, zu tun.

 

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, eine Hochschule zu gründen?

Sehr wichtig war für mich die Erfahrung, dass junge Leute anders studieren wollen. Ich war davor an anderen Hochschulen, habe dort aber gemerkt: Ich bringe die Studierenden ins Denken, ich bringe sie ins Fragen, aber in anderen Vorlesungen wird das gleich wieder unterbunden und die entstehenden Freiräume stürzen gleich wieder ein. Daraus ergab sich für mich die Frage: Wie groß müssen Schutzräume sein für Bildung, wo auch über längere Zeit etwas getragen werden kann? Vor einem solchen Hintergrund habe ich mich gemeinsam mit anderen dazu entschlossen, eine Hochschule zu gründen. Dabei geht es auch etwa darum, finanzielle Ströme und organisatorische Angelegenheiten anders zu gestalten, vor allem aber darum, die Strukturen für und durch Wissenschaft zu schaffen, die uns die Freiräume geben, Transformation in der Gesellschaft zu erforschen, zu erlernen und lehren sowie zu realisieren.

»Ich bin ein Mensch, der seine eigene Biografie schreibt. Und ich bin die Autorin. Das System schreibt nicht meine Biografie. Zur Stärkung einer eigenen, selbstbestimmten Autorschaft des eigenen Lebens wählen wir innovative didaktische Formen.«

Wie sieht für Sie die Hochschule der Zukunft aus? Was sind Ihre Konzepte, um kritische Persönlichkeiten auszubilden?

Das eine sind die »Studia humanitatis«, also ein Curriculum explizit für die Persönlichkeitsbildung. Unsere Studiengänge fangen immer mit dem Modul »Bildung und Biografie« an. Darin thematisieren wir das, was uns alle verbindet: dass wir schon eine Bildungsbiografie geschrieben haben. Leider geschieht dies oft sehr leidvoll, mittlerweile auch schon im Bachelor. Es ist aber wichtig, überhaupt zu verstehen: Ich bin ein Mensch, der seine eigene Biografie schreibt. Und ich bin die Autorin. Das System schreibt nicht meine Biografie. Zur Stärkung einer eigenen, selbstbestimmten Autorschaft des eigenen Lebens wählen wir innovative didaktische Formen.

Das zweite ist ein Gefühl zu vermitteln, dass wir unsere Leben nicht in einem Vakuum führen. Man ist niemals alleine, und man fängt niemals bei Null an. So stellt etwa die Fridays for Future-Bewegung nicht zum ersten Mal Fragen nach zivilem Ungehorsam. Im Moment aber haben viele junge Leute das Gefühl: Wir sind die Ersten, die mit einem Problem konfrontiert sind. Das liegt daran, dass Bildung kein historisches Gedächtnis mehr vermittelt. Dagegen gehen wir an, indem wir in jedem Studiengang kultur- und ideengeschichtliche Inhalte vermitteln, die für ein Verständnis der eigenen Gegenwart und ihrer Gewordenheit wichtig sind.

Neu an unseren Studiengängen ist in dem Zusammenhang auch, dass sie komplett weltbezogen sind. Es werden also nicht mehr starre Fächer gelehrt, sondern es wird immer gemeinsam an Themen gelernt. Beispielsweise im neuen Master Ökonomie – Verantwortung – Institutionsgestaltung setzen wir sehr stark auf eine erfahrungsbasierte und handlungsorientierte Didaktik. Das heißt, dass wir in einem Großteil des Studiengangs die Studierenden dazu befähigen, sich ihre eigenen Inhalte und Formen des Studiums zu erarbeiten und wir als Lehrende eher in die Begleit- und Moderations-Rolle wechseln.

Stärkung der Persönlichkeit, Kontextualisierungswissen und schließlich Gegenstands- statt Fachorientierung sind also drei wichtige Eckpfeiler unseres Ansatzes. Wenn wir, wie ich es tue, davon ausgehen, dass unser heutiges Wissen nicht das sein wird, was Leute in zehn Jahren brauchen, dann hat es nur noch Sinn, Prozesse des Umgangs mit konkreten Problemen unter Unsicherheit zu lehren und zu lernen. So können Hochschulen heute schon zu den Produktionsstätten einer lebenswerteren Zukunft avancieren.

»Stärkung der Persönlichkeit, Kontextualisierungswissen und schließlich Gegenstands- statt Fachorientierung sind drei wichtige Eckpfeiler unseres Ansatzes.«

Wie wird Ihre Hochschule in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Der ökonomische Mainstream reagiert nach wie vor, abgesehen von manchen Eruptionen der Gegenwehr, mit Ignoranz. Das ist auch in Ordnung, weil Paradigmenwechsel nie aus dem Inneren eines Paradigmas kommen. Ansonsten erfahren wir viel zu viel Resonanz, und es kommen eher zu viele Leute auf uns zu, als dass wir alle Anfragen mit unseren Mitteln bewerkstelligen könnten. In den ersten zwei Jahren dachten wir noch oft: Wir haben ein tolles Konzept, warum interessiert sich keiner dafür? Das hat sich komplett gewandelt. Das gesellschaftliche Interesse ist viel größer als das, was wir stemmen können. Es bräuchte insbesondere viel mehr finanzielle Ressourcen, damit immer mehr junge Menschen andere Biografien schreiben könnten.

 

Bezogen auf die Wirtschaftswissenschaften sprechen Sie von einer »geistigen Monokultur«, also einem Mainstream an den Lehrstühlen und Hochschulen. Wieso ist diese Monokultur vor allem in den Wirtschaftswissenschaften so ausgeprägt?

Wir haben da tatsächlich eine Standardisierung, die es außer vielleicht bei den Naturwissenschaften nur in diesem Fach gibt. Keine andere Sozialwissenschaft kann da mithalten. Diese Monokultur entsteht dabei nicht reflektiert, sondern über ein stillschweigendes Eintrainieren im Rahmen einer abstrakten Lehre. Die Standardisierung ist dabei ein globales Phänomen, es gibt weltweit nur wenige Lehrbücher, die überall eingesetzt werden. Wenn etwa Austauschstudierende aus Mexiko zu uns kommen, sagen sie: Ich muss für meine Heim-Universität dieses Lehrbuch durchgenommen haben, Kapitel 8-13, machen Sie das auch? Komplett andere Kultur, mit komplett anderen wirtschaftlichen Problemlagen, aber es soll genau das gleiche Lehrbuch sein!

Die Ursprünge der Monokultur sind sicher in ökonomischen Forschungsmethoden zu suchen. Die Wirtschaftswissenschaften sind eine Wissenschaft, die im Rahmen der Neoklassik zunächst strikt mathematisch arbeitete, mittlerweile aber den Deckmantel der Mathematik mehr und mehr als Autorität nutzt, um eine Marktideologie darunter zu schieben, zumindest in einführenden Lehrveranstaltungen. Das ist eine hochexplosive Mischung, die sich in weiten Teilen mit Interessen gerade auch von marktradikalen Thinktanks deckt. Dadurch, dass diese Wissenschaft keine Geschichte lehrt, wächst unter den Studierenden auch kein geschichtliches Bewusstsein, dass das überhaupt anders sein könnte. Vielmehr wird ihnen beigebracht, dass es sich um die Vermittlung vermeintlich reiner Wahrheiten und Fakten handelt.

Der Widerstand gegen Veränderungen ist auch deshalb sehr hoch, weil es eine unheimlich einflussreiche Wissenschaft ist. In Deutschland müssen durch die einführende VWL-Lehrveranstaltung 20 Prozent aller Studierenden gehen. In Amerika muss jeder Collegestudierende durch die Econ101-Kurse durch. Was hier über Wirtschaft gelehrt wird, beeinflusst somit massiv dasjenige, was die Leute über Wirtschaft denken und wie sie darüber nachdenken.

»In vielen Fällen des transformativen Engagements ist die Intuition die beste erste Ratgeberin. Wenn Sie etwas stört, wenn Sie eine Dissonanz wahrnehmen, investieren Sie Zeit darin, diese Dissonanz zu erforschen.«

Warum tragen so viele Menschen an den Lehrstühlen diesen Mainstream mit? Wieso gibt es nicht mehr Kritik?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass viele Studien gerade mit Bezug auf Deutschland zeigen, dass selbst im Mainstream das Bewusstsein wächst, dass etwas falsch läuft – zumindest mal in der Lehre. Dieses wachsende Bewusstsein mündet aber nicht in Veränderung, weil immer wieder auf vermeintlich geltende Sachzwänge verwiesen wird.

In der Tat sind die ganzen universitären Belohnungssysteme hauptsächlich im Sinne des Mainstreams gestrickt. Als ich als junge Doktorandin angefangen habe, anders zu forschen, haben viele gesagt, dass sie lieber erst einmal das Spiel mitspielen wollen. Sie haben gehofft, dass sie so erst einmal groß und stark werden wollen, um dann als Professor*innen später alles anders zu machen. Dabei aber wird vernachlässigt, dass das, was wir tun, uns auch als Menschen prägt. Die Idee, ich fresse mich 30 Jahre durch einen Grießbrei durch, und dann komme ich ins Paradies und bin immer noch der gleiche Mensch mit all seinen Visionen und Ideen, ist illusionär. Deswegen brauchen wir für wirkliche Veränderung auch gleichsam alternative Entwicklungstracks, die existenziell anders sind. Nachwuchswissenschaftler*innen sollten nicht mehr sagen müssen: Jetzt spiele ich eben erstmal ein paar Jahre nach den geltenden, fragwürdigen Regeln mit. Ich habe es zum Beispiel auch nie getan, weil ich einfach Sorge hatte, dass es mich als Mensch negativ verändern würde. Heute bin ich zufrieden mit meiner Biografie, auch wenn sie sicher nicht dem Standard-CV entspricht. Sie zeigt, dass wir uns als Menschen immer auch gegen geltende Sachzwänge entscheiden und damit neue Wege anlegen, erkunden und gangbar machen können.

 

Was möchten Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben?

In vielen Fällen des transformativen Engagements ist die Intuition die beste erste Ratgeberin. Wenn Sie etwas stört, wenn Sie eine Dissonanz wahrnehmen, investieren Sie Zeit darin, diese Dissonanz zu erforschen, und lassen Sie sich nicht davon abbringen. Das sind für mich die spannenden biografischen Entwicklungen bei Studierenden. Das andere ist: Zweifeln Sie jene an, die Ihnen sagen, dass jetzt noch die normalen Karrierewege risikolos machbar sind. Bei den extremen Veränderungen des heutigen Lebens kann es zum größten Risiko werden, das zu machen, was alle machen. Bleiben Sie also lieber gleich bei Ihrem Weg, machen Sie das, was Ihnen von Anfang an wichtig ist. Das heißt nicht, nach Lust und Laune zu entscheiden. Auch geht es nicht um Spaß. Es geht um das, was Ihnen wirklich wichtig ist.

 

Interview: Mai 2020