Im Gespräch mit

Heike Walk

Vizepräsidentin für Studium und Lehre an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE)

Frau Walk, was macht transformative Wissenschaft für Sie aus?

Transformative Wissenschaft beschäftigt sich mit unterschiedlichen disziplinären Themenfeldern, die versuchen, gesellschaftlichen Wandel zum einen zu erklären und zum anderen auch Wissen bereitzustellen, wie gesellschaftlicher Wandel aktiv gefördert werden kann. Bei transformativer Wissenschaft geht es also um das Wissen über die Gestaltungsmöglichkeiten, die die Gesellschaft für die Einleitung eines solchen Wandels hat. In Abgrenzung dazu versuchen Transformationswissenschaften eher, Wissen zu sammeln über den Kontext, die Ursachen und Wirkungen von Transformationsprozessen und ein Verständnis zu entwickeln, wie Übergangsprozesse ablaufen. Aber meistens vermischt sich das auch.

Foto © HNEE, Ulrich Wessollek

Heike Walk ist Vizepräsidentin für Studium und Lehre an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE) und versucht dort, transdisziplinäre und transformative Lehr- und Lernformate zu fördern. Außerdem forscht sie als Leiterin des Fachgebiets »Transformation Governance« zur Beteiligung von Bürger*innen an Transformationsprozessen und zu den Herausforderungen einer demokratischen Transformation (Profil).

Unserem Eindruck nach ist der Fokus in der Literatur mehr auf transformativer Wissenschaft und Forschung, während die Lehre in der Debatte ein bisschen unterrepräsentiert ist. Wie kann Ihrer Meinung nach eine Lehre für transformative Wissenschaft aussehen?

Es gibt inzwischen viele Erkenntnisse, dass Studierende neben Hintergrund- und Orientierungswissen vor allen Dingen auch Transformationswissen brauchen. Die gegenwärtigen Strukturen an den Hochschulen sind dafür aber nicht förderlich. Es sind nach wie vor einzelne aktive Lehrende, die an ihren Fakultäten und Fachbereichen sehr dicke Bretter bohren müssen. Der Bologna-Prozess hat dazu geführt, dass die Studiengänge wieder verschulter sind als früher und weniger Raum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten lassen.

Dazu kommt, dass das ökonomische Effizienzkriterium sich dahingehend durchgesetzt hat, dass abprüfbare Kontrollmechanismen wieder in den Vordergrund gerückt wurden, z.B. in Form von Klausuren, die in sehr vielen Fächern wieder eingeführt wurden. Klausuren sind wichtig, um Fachwissen abzufragen, aber sie sind eher ein Bremsklotz, wenn es um Gestaltungswissen und Kommunikationsfähigkeiten geht. Hier müsste die Politik stärker agieren und den Hochschulen wieder mehr Spielräume ermöglichen, z.B. indem die eingeführten Kontrollmechanismen auch Gestaltungs- und Kommunikationskompetenzen berücksichtigen. Die Agenturen, die Studiengänge akkreditieren, sollten sich sehr viel intensiver mit den Vorteilen einer transformativen Lehre auseinandersetzen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich für viele Studierende gute Lehre mit einem guten Entertainment verbindet. Aber dabei darf es nicht bleiben, sondern die Studierenden müssen auch selbst in die Pflicht genommen werden, damit sie eigenverantwortlich die Lehrinhalte mitgestalten und auch kritisch reflektieren können. Kritische Reflexionsmöglichkeit äußert sich darin, dass in den Kursen auch Raum für Diskussion und kritische Reflexion gelassen wird. Wir brauchen Lehrende, die Kommunikationsfähigkeiten und Methodenwissen mitbringen und wir brauchen eigenverantwortliche Studierende, damit dieses aktive Handeln und Gestalten gelernt werden kann.

 

Welche Ansätze verfolgt die Hochschule Eberswalde (HNEE) in der Lehre, um dem gerecht zu werden?

Einmal haben wir studentisch organisierte Projektwerkstätten, die ursprünglich an der TU Berlin entwickelt wurden. Alle Studierenden können an diesen Projektwerkstätten mindestens einmal während ihres Studiums teilnehmen und die Inhalte selbst planen, d.h. Themen selbst wählen und erarbeiten. Die Studierenden werden dabei fachlich von einem*r Hochschullehrer*in begleitet.

Darüber hinaus versuchen wir, auch in andere Veranstaltungen interaktive Lernelemente einzuflechten. Wir sind beispielsweise gerade dabei, in unserer Nachhaltigkeitsvorlesung, an der alle Erstsemesterstudierenden teilnehmen und in die unterschiedlichen Themen der Nachhaltigkeit eingeführt werden, fachbereichsübergreifende Projektgruppen auf den Weg zu bringen. In diesen Projektgruppen können die Studierenden zu einem Nachhaltigkeitsproblem praxisorientiert und forschungsbasiert Lösungen erarbeiten. Das kann auch heißen, mit einzelnen Stakeholder*innen aus der Region unterschiedliche Problemfragen zu sammeln und dafür erste Ideen zu liefern. Damit gehen wir einen neuen Weg, weil diese Nachhaltigkeitseinführungsveranstaltung bislang eine Frontalveranstaltung war, die mit einer Klausur abgeprüft wurde.

»Wir brauchen Lehrende, die Kommunikationsfähigkeiten und Methodenwissen mitbringen und wir brauchen eigenverantwortliche Studierende, damit dieses aktive Handeln und Gestalten gelernt werden kann.«

Wie ist bei diesen neuen Lehrformaten die Dynamik innerhalb der Hochschule, tragen das alle mit?

Es sind bisher eher Einzelne, die diese neuen Formate schwer erkämpfen müssen. Eine Besonderheit der HNEE ist, dass wir vor anderthalb Jahren einen sehr partizipativen Strategieprozess eröffnet haben. Darin versuchen wir, die HNEE in ihrem besonderen Nachhaltigkeitsprofil in den Blick zu nehmen und mit allen Statusgruppen, also mit den Studierenden, mit den Professor*innen, mit den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und mit den Verwaltungsangehörigen, die drängenden Probleme der Hochschule zu identifizieren und in unterschiedlichen Arbeitsgruppen Ideen und Visionen zu entwickeln, wie wir die Zukunft der HNEE gestalten wollen. Da gibt es auch eine Gruppe, die sich im Speziellen der Lehre widmen und ein transformatives »Leitbild Lehre« entwickeln möchte, um die Kommunikations- und Gestaltungskompetenzen von Studierenden zu fördern.

Ein besonderer Schwerpunkt der HNEE ist nicht nur der Schutz der Ökosysteme, sondern auch, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Wir haben beispielsweise »Service learning« als fachbereichsübergreifenden neuen Schwerpunkt etabliert. »Service learning« heißt, dass das Engagement von Studierenden in Vereinen, Genossenschaften und sonstigen Gruppen und Initiativen in der Hochschule wissenschaftlich bearbeitet und auch mit Credits anerkannt wird. Diesen Bereich wollen wir ausbauen, weil es ein wichtiger Teil von transformativer Lehre ist, wenn Studierende frühzeitig lernen, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen.

 

Wie grenzen Sie transformative Lehre und transdisziplinäres Lernen und Lehren voneinander ab?

Transdisziplinäre Lehre, also die Integration von Praxisakteur*innen in die Lehre, um die Forschungsfragen gemeinsam zu erarbeiten, ist schon mal ein wichtiger Schritt. An der HNEE leisten wir aber nicht nur einen Praxistransfer, sondern wollen nachhaltiges transdisziplinäres Wissen erarbeiten. Uns geht es um Nachhaltigkeitsgestaltung. Wir versuchen, die Probleme, die wir mit unseren Praxispartner*innen identifizieren, immer vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsagenda zu spiegeln. Gegenwärtig versuchen wir das durch die Integration bzw. Diskussion der »Sustainable Development Goals«. Das macht für uns auch Transformationswissen aus: Für uns geht es immer um eine nachhaltige Transformation.

Nachhaltigkeit umfasst für uns auch soziale Nachhaltigkeit, weitere wichtige Themen sind Diversität oder Rassismus. Auch diese Problematiken sollten wir in die Wissenschaftscommunities transportieren. Für uns heißt gesellschaftliche Verantwortung eben auch, dass wir uns in politische und soziale Fragen einmischen und uns darüber bewusst werden, dass auch diese Dimensionen bei der Ausarbeitung wissenschaftlicher Ergebnisse berücksichtigt oder zumindest kritisch reflektiert werden sollten.

 

Welche Kompetenzen braucht es auf Seiten der Lehrenden für transformative Lehre?

Bei uns – und mittlerweile an den meisten Hochschulen – wird kein Berufungsverfahren durchgeführt, ohne dass die Bewerber*innen eine Lehrprobe durchführen müssen. Diese Lehrprobe ist in aller Regel sehr interaktiv gestaltet. Auch wenn das schon ein Fortschritt ist, sollten Lehrende hinsichtlich ihrer Kommunikationsfähigkeit und Methodenkompetenz kontinuierlich weitergebildet werden. Oft weisen Kandidat*innen in den Berufungsverfahren ein sehr interaktives Lehrformat vor, das aber in der Folge in der Ausübung ihrer Lehrveranstaltung nicht mehr wirklich sichtbar ist.

Was wir wirklich brauchen für die Vermittlung von transformativem Wissen, ist eine Flexibilität der Kommunikationsfähigkeit und der Methoden. Wir können nicht auf alle Probleme und auf alle gesellschaftlichen Gruppen eine bestimmte Schablone anwenden, sondern wir müssen unsere einzelnen Schritte auch ständig anpassen und kommunizieren, wenn wir alle mitnehmen wollen. Darin müssen wir auch unsere Studierenden besser ausbilden – nicht nur mit inhaltlichem Fachwissen, sondern wir müssen sie darin trainieren, gut zu kommunizieren und Leute mit unterschiedlichen Methoden an ihren fachlichen Ergebnissen zu beteiligen.

»Wir können nicht auf alle gesellschaftlichen Gruppen eine bestimmte Schablone anwenden, sondern wir müssen unsere einzelnen Schritte ständig anpassen und kommunizieren, wenn wir alle mitnehmen wollen.«

Wie kann eine Hochschule diese methodische Weiterentwicklung bei Lehrenden aktiv fördern?

Es hat sich in der Vergangenheit schon sehr viel dadurch verbessert, dass Kandidat*innen bei ihren Bewerbungen auch belegen mussten, dass sie Weiterbildungen gemacht haben. Wenn jetzt zusätzlich festgelegt wird, beispielsweise in den Berufungsverhandlungen oder aber prinzipiell, dass alle Lehrenden regelmäßig Weiterbildungen in Richtung neuer Methodenkompetenz, neuer, innovativer Lehr- und Lernformate belegen müssen, dann würde sich viel verändern. Wir sehen das ja aktuell auch im Bereich Digitalisierung. Vor Corona hatten viele Lehrende »Blended Learning« oder digitale Lehrformate noch nicht in ihre täglichen Abläufe eingebaut. Durch den Zwang sind jetzt (fast) alle auf einmal im Bereich digitale Lehre unterwegs. Da musste auch Druck von außen kommen. Es gibt viele Leute, die intrinsisch motiviert sind, aber es gibt eben auch sehr viele, die durch klare Forderungen oder Vorgaben dazu gebracht werden müssen.

 

Welche Kompetenzen versuchen Sie, jungen Menschen in Ihren transformativen Lehrangeboten zu vermitteln?

Es ist wichtig, dass Studierende das, was sie über Nachhaltigkeit lernen, auch selbst versuchen, in der Praxis zu leben. Das kann in ihrem Privatleben sein, das kann aber auch gemeinsam mit anderen Studierenden in einem Projekt sein. Der Begriff »Reallabor« umschreibt das sehr gut, dass – entweder im Rahmen eines Studiengangprojekts oder aber eines fachbereichsübergreifenden Projekts – versucht wird, sich mit einem Nachhaltigkeitsproblem auch in der Praxis zu beschäftigen.

Ich gebe beispielsweise ein Seminar, das den Titel »Transformationspioniere« trägt. Darin werden sich die Studierenden in einem ersten Schritt bewusst, welche Nachhaltigkeitsbereiche sie am wichtigsten finden. Dann beschreiben sie visionär eine nachhaltige Lösung für dieses Problem. Die anderen Studierenden in dem Seminar versuchen, sich konstruktiv mit dieser Idee auseinanderzusetzen. Meistens wird dann aus dieser ganz kleinen Idee schnell etwas viel Größeres. Im Weiteren überlegen sich die Studierenden – angeleitet durch mich –, was die weiteren Schritte in diesem Nachhaltigkeitsprojekt sein könnten: Wäre das eine Geschäftsidee? Wer könnten mögliche Finanziers sein? Wie könnte man die Idee auf den Weg bringen? Wie kommt man schnell von dieser groben Vision zu einem konkreten Konzeptplan, einem konkreten Finanzierungs- und Marketingplan. Für viele Studierende ist das total interessant, diesen Prozess ihrer eigenen Idee einmal zu durchlaufen. Und wenn sie dann vielleicht nach dem Studium wieder eine gute Idee haben, dann wissen sie, wie sie diese Idee konkret auf den Weg bringen können.

»Damals wie heute ist es wichtig, dass Studierende sich hinstellen und sagen: Wir wollen etwas Anderes!«

Wie kann ich als Studierender selbst zu diesen Kompetenzen kommen, wenn ich an einer Hochschule studiere, die Nachhaltigkeit und Transformation noch nicht so als Leitbild etabliert und entwickelt hat wie die HNEE?

Mittlerweile gibt es an fast allen Hochschulen einzelne Leute, die sich diesem Themenfeld widmen. Und es ist ja auch an allen Hochschulen möglich, mal in andere Fachbereiche hinein zu schnuppern. Zudem gibt es natürlich auch immer die Möglichkeit, gezielt ein Auslands- oder Praktikumssemester zu nehmen, um mehr in Nachhaltigkeitsthemen einzusteigen. Oder die Studierenden schauen sich in den jeweiligen Netzwerken um: Sowohl der Social Media Bereich als auch viele andere Bereiche bieten ja die Möglichkeit, sich zu vernetzen oder in Vereinen aktiv zu werden. Ich habe eingangs etwas zum Thema Engagement in zivilgesellschaftlichen Gruppen gesagt. Wenn es also tatsächlich im Rahmen der Hochschule nicht möglich ist, gibt es noch diesen außeruniversitären zivilgesellschaftlichen Bereich, in dem man sich weiter engagieren und qualifizieren kann. Vielleicht findet man dort auch Überschneidungspunkte, um das, was man im außeruniversitären Bereich lernt, mit dem, was man in der Hochschule lernt, zu verbinden.

 

Das setzt natürlich einen gewissen Freiraum voraus, der – Stichwort Bologna – wahrscheinlich gerade auch eher weniger wird als mehr.

Für Ihre Generation ist die gestiegene Mobilität eine große Chance. Wenn Sie an Ihrer eigenen Hochschule keine Module zu bestimmten Themen finden, können Sie vielleicht digitale Module aus anderen Hochschulen mit hinzunehmen. Ich glaube, dass das eine große Chance ist, ein Stück weit dem Bologna-Prozess zu entkommen. Wenn Sie dann die Seminare wählen, die nicht verschult, sondern eher interaktiv sind, sendet das natürlich auch ein Signal an die Hochschulen.

 

Was geben Sie jungen Menschen gerne mit auf den Weg?

In erster Linie würde ich raten, sich zusammenzuschließen, also sich nicht nur Wissen anzueignen, sondern tatsächlich auch in Vereinen, Initiativen, und Transformationsnetzwerken aktiv zu werden. Dabei ist es für junge Leute, die im Nachhaltigkeitsbereich aktiv sind, wichtig, nicht nur in ihrer Bubble zu bleiben, sondern das Wissen für andere zur Verfügung zu stellen. Und diejenigen, die aktiv sind, würde ich ermutigen, stärker politisch aktiv zu werden und Nachhaltigkeit bei den jeweiligen Institutionen einzufordern, wo sie selbst tätig sind. Sie müssen sich immer vergegenwärtigen, dass Sie auch laut werden müssen, um Dinge zu verändern.

Wenn ich mit unseren Studierenden diskutiere, dann wird gerade politisches Engagement häufig ein bisschen als ein Relikt aus der Vergangenheit eingeschätzt. Wenn wir zum Beispiel über die Frauenbewegung reden, heißt es oft: »Ja, damals mussten die Frauen aktiv werden und kämpfen. Heute ist das anders, denn jetzt haben wir ja alle Rechte und müssen daher nicht mehr politisch sein.« Ich glaube, das ist ein großer Trugschluss. Politisches Engagement, also Eintreten für seine Ideen, das ist in jedem Zeitabschnitt wichtig. Man muss diese Rechte immer wieder erkämpfen. Sie als Studierende müssen sich heute genauso die Rechte für bestimmte Veränderungen erkämpfen wie die 68er – auch wenn es damals vielleicht aus heutiger Perspektive die größeren Baustellen waren. Ich glaube, damals wie heute ist es wichtig, dass Studierende sich hinstellen und sagen: »Wir wollen etwas Anderes!«

 

Interview: Juni 2020