Im Gespräch mit

Irene Vögeli

Co-Leiterin des MA Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Liebe Frau Vögeli, Sie sehen den Studiengang Transdisziplinarität als Scharnier. Welche Welten bringen Sie damit zusammen?

Zunächst einmal sind wir innerhalb der Schule ein Scharnier, weil bei uns Studierende aus allen künstlerischen Sparten studieren. Sonst gibt es Spartenstudiengänge, ausgerichtet auf ein sehr spezifisches künstlerisches Feld. Dann sind wir auch Scharnier zwischen den Künsten und den Wissenschaften. Circa 20 Prozent unserer Studierenden haben einen Bachelor in den Wissenschaften oder kommen aus ganz anderen Berufen. Das zeigt sich auch in den Masterarbeiten: Es muss nicht immer Kunst sein, was da entsteht. Es können auch ästhetische Strategien oder künstlerische Verfahren sein, die in anderen Kontexten eine Rolle spielen. Zuletzt sind wir vielleicht auch Scharnier im Sinne von Transitionsprozessen bei den Studierenden. Viele Studierende richten sich nach dem Studium anders aus oder wollen ihre angestammte Tätigkeit eher verlassen.

Irene Vögeli ist im Leitungsteam des Masters in Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Mit langjähriger Erfahrung als Grafikerin und Theoretikerin arbeitet sie in Lehre und Forschung an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis.

Wie gelingt es Ihnen, eine plurale Studierendenschaft anzusprechen, die nicht nur der Kunstgemeinschaft entspringt?

Wie plural es wirklich ist, ist eine wichtige Frage. Wir haben pro Jahr 18, 19 Studienplätze und etwa 50 Bewerber*innen. Da fängt es schon an: Wer bewirbt sich überhaupt? Alle haben vorher schon auf irgendeine Weise Zugang zum Kunstfeld. Manchmal nehmen wir Leute auf, die sozusagen nicht zur Blase gehören. Das bringt natürlich auch bestimmte Schwierigkeiten mit sich, vielleicht sind die Sprachen zu verschieden. Zwei Jahre Studium sind fast zu kurz, um sich da zurechtzufinden und um überhaupt in einen Diskurs einsteigen zu können. Daher würde ich nicht sagen, uns gelingt alles, was wir uns wünschen würden. Weil wir pro Jahr ein, zwei Personen aufnehmen dürfen, die die formalen Voraussetzungen nicht erfüllen, gibt es immerhin auch immer wieder Autodidakt*innen unter den Studierenden.

Kunsthochschulen leben von einem bestimmten Elitaritätsparadigma. Ein Studiengang läuft dann gut, wenn es möglichst viel mehr Bewerber*innen gibt als Studienplätze. Dann kann man – in der offiziellen Terminologie – die Begabtesten auswählen. Bei der Auswahl läuft allerdings vieles implizit ab und man fällt aufgrund nicht immer explizit gemachten Kriterien Entscheidungen, die sicher auch diskriminierend sind. Da würde ich jetzt nicht sagen, wir sind viel besser als andere. Wir wissen zwar, dass das passiert, aber ob wir deshalb immer das Richtige tun, weiß ich nicht. Eine Person durchs Studium zu begleiten, die vielleicht fremder ist, bedeutet auch höhere Anforderungen an uns; dafür muss man sich oft bewusst entscheiden.

 

Es ist eine relativ neue Entwicklung, dass auch Kunsthochschulen einen expliziten Forschungsauftrag haben. Welche Rolle spielt das für den Studiengang?

Bis vor Kurzem waren Forschung und Lehre an unserer Schule fast gänzlich voneinander getrennt. Zu den neuen Strategiezielen gehört es nun, Forschung und Lehre näher zusammenzubringen. Seit der Einführung von Bologna sollte die Lehre eigentlich forschungsbasiert sein. Im Moment stärken wir den Transfer Forschung-Lehre mit zwei Forschungsinstituten bzw. -schwerpunkten. Das heißt nicht nur, dass Forschende mehr in die Lehre eingebunden werden, sondern auch, dass Lehrende und Studierende Einblicke in die Forschung bekommen. Die Forschung in den beiden Schwerpunkten ist sehr unterschiedlich. Das eine ist ein Institut für Theorie, wo es um Ästhetik und Philosophie geht. Der andere Forschungsschwerpunkt heißt Transdisziplinarität und wird von einem Künstler geleitet.  

Ob und wie sich Forschung an einer Kunsthochschule von einer – ausschließlich – wissenschaftlichen Forschung unterscheiden kann und soll, ist auch in unserem Bereich Gegenstand anhaltender Debatten. Die staatliche Forschungsförderung fokussiert auf die Wissenschaften, und es sind hauptsächlich wissenschaftliche Kriterien, die bei einem Antrag geltend gemacht werden. Wie wir uns als Kunsthochschule dazu verhalten können und wollen, wird ebenfalls diskutiert. Dies betrifft auch den PhD-Bereich. Als Fachhochschule haben wir kein Promotionsrecht und können Doktorate nur in Kooperationen mit anderen Hochschulen anbieten und durchführen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Studierende, die einen PhD machen wollen. Dass der Titel auch für Künstler*innen insbesondere bei Bewerbungen auf Dozierendenstellen von Vorteil ist, zeichnet sich allmählich ab.

»Ob und wie sich Forschung an einer Kunsthochschule von einer – ausschließlich – wissenschaftlichen Forschung unterscheiden kann und soll, ist Gegenstand anhaltender Debatten.«

Welche Sichtweisen gibt es in der künstlerischen Gemeinschaft auf die Frage nach künstlerischer Forschung?

Wir sind hier in einem Spannungsfeld: Ist das, was in den Künsten generiert wird, überhaupt Wissen? Und wenn ja, was für eines? Und wie verhält sich das zu anderem Wissen? Ist Wissen die richtige Bezeichnung? Was ist es, wenn es kein Wissen ist? Da gibt es auch radikale Gegenpositionen, die sagen: Wenn die Künste von sich behaupten, dass das, was sie erarbeiten, Wissen ist, dann vergeben sie alles, was sie ausmacht, ihr ganzes subversives Potenzial. Es gibt immer auch die Angst, dass man sich den Wissenschaften zu sehr angleicht und dadurch verwässerte, künstlerisch nicht sehr interessante und kaum radikale Positionen rauskommen.

 

Wie schaffen Sie im Studium Räume, in denen die Studierenden über derartige Fragen reflektieren können?

Wir reden in unserem Studiengang vermutlich mehr über disziplinäre Prägungen als in jedem der disziplinären Studiengänge an dieser Schule. Diese Reflexion findet zuerst einmal bezogen auf die eigene Herkunftsdisziplin statt, wobei wir Disziplin breit verstehen – von Gartenbau über Sozialarbeit bis hin zu den bekannten künstlerischen und wissenschaftlichen Fächern: Welche Habitualisierungen entstehen durch eine bestimmte Sozialisierung und welche Tugenden werden dadurch geprägt? Wie unterscheiden sich die von denjenigen anderer? Für das Agieren in transdisziplinären Projekten ist es wichtig, Distanz nehmen zu können und sich über die Relativität dessen, was man für die richtige Zugangsweise hält, bewusst zu sein.

Gerade für Leute, die einen wissenschaftlichen Hintergrund haben, ist die Dauer des Studiums eher kurz. Künstlerische Praktiken lernt man durch permanentes Tun und dadurch, Dinge auf bestimmte Weise zu betrachten und über sie zu sprechen. Künstlerisches Wissen – wenn man es »Wissen« nennen will – hat auch implizite, inkorporierte Anteile, die anders erlernt werden als explizierbares, wissenschaftliches Wissen. Auch darüber sprechen wir im Studiengang. Interessant ist, dass sich Studierende mit einem wissenschaftlichen Hintergrund zu Beginn des Studiums oft etwas verloren fühlen und den Eindruck haben, sie hätten keine »Praxis«. Ähnlich wie die Frage nach dem Wissen und seinen möglichen Definitionen stellt sich daher auch jene nach der Definition von Praxis.

 

Gleichzeitig ist es vermutlich nicht einfach, bei einer so diversen Studierendenschaft Angebote zu schaffen, die alle ansprechen.

Wir haben kein fixiertes Curriculum, sondern versuchen, die Inhalte der Lehrveranstaltungen an den Themen und Interessen der Studierenden zu orientieren. Dabei spielt es natürlich eine Rolle, dass die Studierenden unterschiedliches Vorwissen zu diesen Themen mitbringen. In den Kursen versuchen wir, Theorie und Praxis nicht einfach zu trennen, sondern ineinander übergehen zu lassen. Dennoch gibt es immer Studierende, die uns vorwerfen, wir seien zu theorielastig. Interessanterweise sind dies häufig jene mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Auf der künstlerischen Seite haben viele einen extremen Theoriehunger und sind genau daran interessiert: Was ist Theorie? Was ist Praxis? Wie verfährt man mit Konzepten und mit Texten aus den philosophischen Fächern? Wie überträgt man sie in die eigene Praxis?

Unterschiede auf Seiten der Praxis gibt es aber auch unter den Kunstsparten. Während eine Musikerin mehrere Stunden pro Tag üben muss und daher einem recht strikten Tagesplan folgt, gibt es bei einem Bildenden Künstler auch mal – mindestens scheinbar – unproduktive Phasen. Es sind unterschiedliche Mentalitäten, die mit den Praktiken und den jeweiligen Kunstfeldern verbunden sind. Das war mir vorher auch nicht so bewusst. Es mag zwar in Adornos Worten Verfransungen der Künste geben – in den meisten Kunstsparten wird zum Beispiel multimedial gearbeitet und Strategien und Verfahren der einen Sparte werden in andere aufgenommen. Die Diskurse, die sich dann auf die einzelnen Kunstfelder beziehen, und die Kriterien, die in ihnen gelten, scheinen mir allerdings bei Weitem nicht so verfranst. Im Studiengang kann dies auch dazu führen, dass ein Musiker eine Performance für ein Konzertpublikum macht, die den bildenden Künstler*innen eher anachronistisch vorkommt. Innerhalb eines eher traditionellen Konzert-Kontextes wird dieselbe Performance ganz anders – vielleicht als neu, avantgardistisch – wahrgenommen.

»Es gibt auch radikale Gegenpositionen, die sagen: Wenn die Künste von sich behaupten, dass das, was sie erarbeiten, Wissen ist, dann vergeben sie alles, was sie ausmacht, ihr ganzes subversives Potenzial.«

Diese Beispiele beziehen sich vor allem auf Unterschiede innerhalb der Kunstgemeinschaft. Wie sieht es mit der Interaktion zwischen Kunst und Gesellschaft aus?

Es gibt von vielen, bisher nur innerhalb der künstlerischen Gemeinschaft operierenden Studierenden das Bedürfnis, sich im Sinne einer politischen Positionierung zu öffnen. Öffnen stellt immer auch die Frage nach Relevanz, die Frage nach gesellschaftlichem Engagement, die Frage danach, Öffentlichkeiten außerhalb der eigenen Blase zu erreichen. Das ist eine Konstante – es gibt immer eine Gruppe Studierende, denen besonders dies ein Anliegen ist.

 

Geht es dabei um Kunst als Intervention?

Ja, das geht bis hin zu aktivistischen Interventionen. Ich möchte ein – schon etwas älteres – Beispiel geben. WochenKlausur ist eine österreichische Künstler*innengruppe, die 1994 in Zürich einen Ruheraum für drogenabhängige Sexarbeiter*innen einrichtete, wo sie saubere Spritzen und etwas zu essen bekommen und schlafen konnten. Das war politisch schwierig durchzusetzen. Die Gruppe hat sich mit den Verantwortlichen der Stadt und mit möglichen Geldgeber*innen in unterschiedlicher Zusammensetzung in ein Boot gesetzt, ist einige Stunden auf dem See herumgefahren und hatte nach einigen Bootsfahrten die nötige Unterstützung und die Mittel beisammen, damit der Raum realisiert werden konnte. Das ist also eine sehr konkrete Intervention, die direkten Einfluss hat für bestimmte Gruppen von Menschen. Das Projekt wird zwar innerhalb des Kunstfelds als Kunst rezipiert, aber man könnte auch sagen, dass Kunst hier eine Strategie ist, um gewisse gesellschaftspolitische Anliegen abseits des bürokratischen Weges zu realisieren.

Im Moment ist das Thema Commons für die Studierenden wichtig: Was sollte als gemeinsame Ressourcen verstanden werden und daher für alle in demselben Maß zugänglich sein? Welche Formen des Teilens wären dafür nötig und möglich? Eigentlich geht es dabei im Kern um die Suche nach anderen Lebensformen, die letztlich mit sämtlichen Problemlagen der Welt verknüpft sind. Bei solchen Initiativen kommt es auch vor, dass sozialpolitische Projekte als Kunst gelesen werden – sozusagen umgekehrt als im Beispiel der WochenKlausur. Eine unserer Studentinnen gehörte zu einer Gruppe von Aktivistinnen, die in Pristina einen Raum für Diskussionen, Konzerte, Ausstellungen etc. aufgebaut hat. Die Projektgruppe wurde schließlich an die documenta eingeladen. Dass ihre Aktivitäten als Kunst verstanden werden könnten, war der Gruppe, aus welcher niemand zuvor etwas von der documenta gehört hatte, davor nicht bewusst. Solche und ähnliche Beispiele führen zu Diskussionen, in welchen der gesellschaftliche Ort der Kunst und des Kunstfelds verhandelt wird. Positionen, die der Vereinnahmung politisch motivierter Aktionen durch die Kunst mit Skepsis begegnen, spielen dabei ebenso eine Rolle wie solche, die ihr taktisches Potenzial nutzen wollen.

»Im Studiengang geht es um den Versuch, andere Denk- und Sprechweisen kennen und verstehen zu lernen – dies bildet den Boden dessen, was wir unter Transdisziplinarität verstehen.«

Sie sehen Kritische Theorie als einen wichtigen Einfluss auf Ihre Arbeit. Was genau verstehen Sie darunter?

Ich meine das nicht im Sinne der Frankfurter Schule, sondern mehr als Critical Thinking. Es gibt gewisse Themen, die die Studierenden sehr beschäftigen und wo sie engagiert sind, Beispiel Postkolonialismus oder Intersektionalitätstheorien. Das ist nicht spezifisch auf die Künste fokussiert, aber es hat natürlich Rückwirkungen, indem man fragt: An wen richtet sich überhaupt, was ich mache? Wer hat Zugang, wen vergesse ich, wen schließe ich aus? Mit welcher Stimme spreche ich und wie positioniere ich mich? Das Konzept Situated Knowledge – dass Wissen die Bedingungen mitreflektiert, in denen es produziert wird – ist für die Studierenden wichtig. Sie sind sowohl in der Wahl der Themen und Verfahren, als auch der Kontexte und Diskurse, in welchen sie sich positionieren oder auf die sie sich beziehen wollen, grundsätzlich frei; aber wir erwarten, dass sie ihre Wahl begründen und allenfalls auch etwas über die damit verbundene Problematik sagen können.

 

Wie unterstützen Sie die Studierenden darin, so eine Haltung zu entwickeln?

Ich weiß nicht, ob man dies im klassischen Sinne lehren kann. Es ist ja eine Art, in der Welt zu sein und auf die Welt zu schauen: Wo passiert Unrecht, und wie bin ich darin involviert? Wie verhalte ich mich dazu? Das ist eine bestimmte Weise, sich in der Welt zu bewegen. Und es ist ja nicht so, dass die Studierenden das nicht schon vorher täten. Manchmal sind sie froh, wenn sie eine Art theoretisches Instrumentarium bekommen, um überhaupt zu argumentieren und das möglicherweise auch in ihre künstlerische Praxis zu übertragen und selbstkritischer auf ihre eigenen Produktionen zu schauen.

 

Was möchten Sie uns zum Abschluss noch mit auf den Weg geben?

Ein wichtiges Thema, auch in Bezug auf künstlerische Forschung, ist die Frage nach der Diskursmacht, um die man nicht wirklich herumkommt. Es wäre verkehrt zu sagen, dass wir nicht alle mit Sprache operieren müssen. Aber wie kann man Sprache und Reflexion als wichtig empfinden, ohne dass es gleich diese Einschüchterungs- oder Bewunderungseffekte gibt, die eine eher wissenschaftliche Sprechweise gerade bei Künstler*innen verursachen kann? Gut sprechen und sich sprachlich artikulieren zu können wird eben doch hoch gewichtet, auch wenn immer wieder die Rede davon ist, dass es bei den Künsten ums Unaussprechliche gehe. Darüber wird dann aber extrem wortreich verhandelt. Bezogen auf das Thema Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist es von Relevanz, welche Sprech- oder Artikulationsweisen mehr Geltung haben als andere. Weil die Zusammensetzung der Studierenden, aber auch der Dozierenden in unserem Studiengang so heterogen ist, sind wir alle in gewisser Weise immer wieder Anfänger*innen und in Bezug auf die Herkunftsfächer der je anderen Lai*innen. Dies schafft eine Atmosphäre, in welcher es weniger um Konkurrenz, als vielmehr um den Versuch geht, andere Denk- und Sprechweisen kennen und verstehen zu lernen – dies bildet sozusagen den Boden dessen, was wir unter Transdisziplinarität verstehen.

Interview: Juni 2020