Im Gespräch mit

Jens Soentgen

Ehemaliger Mitherausgeber der Zeitschrift GAIA – Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft

Lieber Herr Soentgen, Sie haben sowohl Chemie als auch Philosophie studiert. Was hat Sie dazu bewogen?

Wir haben im Wissenschaftsbetrieb einen sehr starken Druck zur Spezialisierung. Mein Weg ging genau in die andere Richtung, weil ich dachte, es muss auch Generalist*innen geben, Leute, die nicht nur immer weiter zerlegen, sondern die auch Ideen haben, wie man die Dinge zusammensehen kann. Es muss auch Leute geben, die sowohl wissen, was das Periodensystem aussagt und auf der anderen Seite aber auch hermeneutische Methoden anwenden können. Ich glaube tatsächlich, dass es sinnvoll ist, zu versuchen, in mehr als einer Disziplin aktiv zu sein. Damit braucht man zwar länger: Wenn man sich spezialisiert, kommt man vielleicht schon mit Mitte 20 zu publikationsfähigen Ergebnissen, aber man erkauft sich das durch eine sehr starke Einseitigkeit und letztlich auch eine Beschränkung, die dazu führt, dass man methodische Begrenzungen plötzlich für eine Weltstruktur hält.

Das zeigt sich zum Beispiel im umweltmedizinischen Bereich durch einen starken Fokus auf krankmachende Stoffe, weil man die zufälligerweise gut messen kann. Aber dass hinter jeder Stoffverteilung ein gesellschaftlicher Vorgang steht und die Umwelt im Grunde gesellschaftlich produziert wird, können viele dann nicht mehr sehen. Umgekehrt gibt es auf der geisteswissenschaftlichen Seite auch sehr viele Abgrenzungsbemühungen, die ich wenig sinnvoll finde. Man kann beides produktiv miteinander verbinden, wenn man zu einer breiteren Perspektive auf Umweltfragen kommen will, die gesellschaftswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Aspekte einschließt. Das ist mir ganz wichtig, und ich glaube, daran fehlt es an allen Ecken und Enden.

Jens Soentgen ist Philosoph und Chemiker und arbeitet an der Universität Augsburg als Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt. Er gibt die Buchreihe Stoffgeschichten heraus und war von 2012 bis 2020 Mitherausgeber der Zeitschrift GAIA – Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft, die im oekom-Verlag erscheint.

[Porträtfoto © Steffen Jagenburg]

Im Diskurs um Inter- und Transdisziplinarität ist der grundsätzliche Ansatz, verschiedene Disziplinen zusammenzubringen. Aber Sie würden eher dafür plädieren, dass diese Interdisziplinarität bereits in einzelnen Personen angelegt sein sollte?

Das ist tatsächlich der Punkt. Ich glaube, in der Interdisziplinaritätsdebatte sind wir zu sehr darauf fokussiert, wie irgendwelche Ereignisse, Events oder Projekte zu managen sind und wir vergessen völlig, dass wir vor allen Dingen interdisziplinäre Persönlichkeiten brauchen, die doppelte Kompetenzen mitbringen und die dann überhaupt erst in der Lage sind, solche Prozesse zu moderieren. Die laufen nicht von selbst. Das ist immer wieder meine Erfahrung. Sie können das nicht durch irgendein Management herbeiführen, sondern das braucht Personen, die wirklich in beide Richtungen denken und das auch verbinden können. Das ist ein völlig blinder Fleck in der ganzen Debatte, diese, ich sage immer mehrsprachigen Persönlichkeiten, die nicht nur eine Sprache sprechen und nicht nur eine Sprache verstehen, sondern wirklich so angelegt sind, dass sie mehrere verstehen und nur deswegen als Übersetzer*innen zwischen den Disziplinen funktionieren können.

Für die müsste es im Grunde Karrierewege geben, Doppelbegabungen, die es ja gibt, müssten systematisch unterstützt werden. Es gibt nur ganz wenige Positionen, wo Sie wirklich als interdisziplinäre Persönlichkeit wertgeschätzt werden. Der ganze Wissenschaftsbetrieb ist auf Spezialisierung ausgelegt, und das sieht man gerade da, wo der Deckmantel Transdisziplinarität steht. Das sind sehr oft Soziolog*innen.

 

Neben den Karrierepfaden müssten wir das wahrscheinlich auch schon in der Ausbildung verankern.

Absolut, das ist mir auch ganz wichtig. Ich finde es immer sehr bedauerlich, wenn Leute aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zum Beispiel nicht wissen, wie viel CO2 in der Luft ist. Zusammen mit dem Landesamt für Umwelt organisieren wir seit zehn Jahren ein ökologisches Studium generale, wo Leute aus erster Hand auf verständliche Weise alle Basics des Umweltthemas darlegen. Da kann ich Ihnen also absolut Recht geben. Ich finde auch, das muss in der Ausbildung enthalten sein. Das müsste auch bei den Umweltnaturwissenschaften viel stärker drin sein. Dass die sich mal mit Klima- oder Biodiversitätspolitik beschäftigen, aber auch mit Symbolisierungen von Natur und vielleicht auch mal mit der Begriffsgeschichte des Wortes Natur auseinandersetzen. Dass die auch mal sehen: Die Kolleg*innen aus den Kulturwissenschaften haben andere Methoden, aber auch diese Methoden sind in höchstem Maße exakt.

Das ist ja immer so ein Wahn, dass man sagt, die Geisteswissenschaften wären nicht exakt, als wäre beispielsweise die Grammatik keine absolut exakte Disziplin. Wenn ich zurückblicke auf die großen wissenschaftlichen Leistungen des zurückliegenden Jahrhunderts, dann zählt da sicher die Aufarbeitung beispielsweise der NS-Vergangenheit dazu – die ist aber rein geisteswissenschaftlich geschehen. Und da, denke ich, muss man wirklich beiderseits ganz viel Bewusstsein schaffen, und das ist mir wichtig. So ein ökologisches Studium generale, das ist wirklich an der Zeit.

»Es gibt nur ganz wenige Positionen, wo Sie wirklich als interdisziplinäre Persönlichkeit wertgeschätzt werden. Der ganze Wissenschaftsbetrieb ist auf Spezialisierung ausgelegt.«

Was verstehen Sie unter Transdisziplinarität?

Ich erkläre das am Beispiel Luftqualität. Wir können genau messen, welche Schadstoffe in der Luft sind und wie viel davon PM10 ist. Und dann können wir sagen, ob der Grenzwert überschritten wurde. Aber viele wesentliche Fragen haben wir damit noch nicht beantwortet, nämlich, wo genau der Grenzwert überschritten ist, was da für Leute wohnen, was die für ein Einkommen haben, wie die die Luftqualität bei ihnen vor Ort empfinden und ob es mit der Luftqualität auch wirklich gerecht zugeht. Das herausfinden kann man nur im Zusammenspiel der Disziplinen erstens und zweitens muss man eben auch die Leute selbst einbeziehen und kann nicht einfach über deren Kopf hinweg sagen: Wir richten jetzt eine Umweltzone ein und alle Handwerker*innen müssen jetzt leider ab morgen draußen bleiben. Und wenn das für die ein Problem ist, müssen sie sich selbst drum kümmern. Wir kommen nur dann zu richtigen Lösungen, wenn wir diesen transdisziplinären Ansatz auch wirklich ernst nehmen.

 

Sie sind Mitglied im Editorial Board der GAIA. Was sind Alleinstellungsmerkmale der GAIA als Journal?

Für die GAIA ist zunächst einmal Inter- und Transdisziplinarität zu einem Markenzeichen geworden. Zweitens ist die GAIA nicht nur eine Zeitschrift, sondern sie ist mindestens genauso erfolgreich als Forum, als Kommunikationsplattform, wo sich Leute aus diesem Bereich kennenlernen können. Und zwar über alle Hierarchieebenen hinweg, also von Spitzenforscher*innen bis zu Nachwuchswissenschaftler*innen. Und drittens die Kooperation und der Austausch zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland. Auch institutionell wird die GAIA von Leuten aus diesen drei Ländern getragen. Wo wir noch nicht so weit gekommen sind, ist die noch stärkere Einbeziehung der Naturwissenschaften. Unsere Anziehungskraft entfaltet sich vor allem in Communities, die eher sozialwissenschaftlich orientiert sind.

 

Die GAIA ist fast 30 Jahre alt. Welche wichtigen Entwicklungen gab es in dieser Zeit?

Die GAIA entstand 1992 durch eine Initiative an der ETH Zürich, wo auch der GAIA-Verein gegründet wurde. Ein großer Umbruch war der Relaunch der GAIA in den 2010er Jahren. Da ging es darum, die GAIA zu einem auch internationalen, peer-reviewten Journal zu machen. Dieser Schritt war wichtig, weil die GAIA dadurch einen Impact Factor bekam und als Publikationsorgan interessanter wurde. Damit war verbunden, dass englischsprachig publiziert werden konnte, aber nicht musste. All das, denke ich, war für die GAIA ein wichtiger Schritt nach vorne.

»Die Anziehungskraft der GAIA entfaltet sich vor allem in Communities, die eher sozialwissenschaftlich orientiert sind.«

Was gehört zu Ihren Aufgaben im Editorial Board?

Wir treffen uns zwei oder drei Mal im Jahr und machen dabei die Heftplanung und -kritik. Ein weiteres wichtiges Gremium ist die Redaktion. Wir haben feste Redakteur*innen, das hat nicht jede Zeitschrift. Das bringt aber mit sich, dass die GAIA sehr viel Geld braucht. Dieses Geld zu beschaffen, ist auch eine Aufgabe des Editorial Boards. Weitere Aufgaben sind die Qualitätssicherung und die Planung: Welche Themen sind gerade aktuell? Das steuert die Ausrichtung der Zeitschrift. Daneben gibt es noch einen Wissenschaftlichen Beirat, den wir für Gutachten oder für die GAIA-Preise anfragen. Die Knochenarbeit machen aber zum einen die Redaktion und zum anderen wirklich massivst die Herausgeber*innen. Das ist richtig viel Arbeit, die für die Community geleistet wird und die weitgehend unsichtbar ist.

 

Wird die Tätigkeit im Editorial Board entlohnt?

Nein, all das geschieht ehrenamtlich, verursacht sogar Kosten, und ist mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden. Das ist wirklich nicht zu unterschätzen. Das sind im Jahr, in Arbeitstagen gemessen, sicher fünf bis zehn Arbeitstage. Alleine, wenn Sie Reviews durchsehen und das wirklich ernst nehmen, dann sind Sie damit bei einem Paper einen Tag oder mindestens einen halben beschäftigt. Das ist ein ungeheurer Arbeitsaufwand, der dahintersteckt. Das geschieht rein aus einer idealistischen Motivation heraus, weil man sagt: Dieses Journal muss aufrechterhalten bleiben, weil diese Plattform so einzigartig ist. Das ist eine Dienstleistung an der Community, ein Dienst für die Sache.

 

Wie ist der Review-Prozess bei der GAIA organisiert?

Der Review-Prozess läuft meistens zwischen der Redaktion und dem Editorial Board ab. Jede*r Herausgeber*in hat bestimmte thematische Schwerpunkte, bei mir zum Beispiel Fragen zu Ressourcen, zu Substanzen, zur Chemie. Wenn dazu Paper eingereicht werden, bekomme ich die und überlege mit der Redaktion zusammen: Wen könnten wir da als Reviewer*in anfragen? Die erste Überlegung ist aber: Geht das überhaupt in den Review? Und das ist oft nicht der Fall. Da ist vielleicht keine erkennbare Forschungsfrage, vielleicht sind da keine neuen Daten oder es ist nur eine Zusammenstellung von mehr oder weniger unverbindlichen Gedanken und Ideen. Da muss der*die Herausgeber*in entscheiden, ob es überhaupt in den Review geht. Und im zweiten Schritt muss man dann überlegen: Wer könnte da für den Review geeignet sein? Wir holen immer drei Reviews ein, zwei fachliche und einen nicht-fachlichen, damit wir auch die disziplinenübergreifende Perspektive gewährleistet haben. Die Auswahl überlegen wir in der Regel gemeinsam mit der Redaktion. Wir nehmen auch neue Reviewer*innen, die noch nicht in unserem Pool an Reviewer*innen sind, wenn es thematisch gut passt.

»Wir haben also Open Access, aber die DFG erkennt das bislang nicht an, weil die GAIA kein reines Open Access-Journal ist. Und das ist für uns ein Problem, denn ein kleiner Verlag wie oekom kann nicht diese Investition tätigen, die für Elsevier und andere möglich ist.«

Wie steht die GAIA zur Diskussion um Open Access?

Die DFG bezahlt nach meiner Information neuerdings nur noch Publikationen, die Open Access publiziert werden. Das erhöht den Druck auf kleine Verlage wie oekom. Die GAIA bietet die Green Road to Open Access an: Sobald das Paper bei GAIA online geschaltet wird, kann der*die Autor*in ein identisches Dokument im Moment der Publikation bei der GAIA in einem Repositorium publizieren. Wir haben also Open Access, aber die DFG erkennt das bislang nicht an, weil die GAIA kein reines Open Access-Journal ist. Und das ist für uns ein Problem, denn ein kleiner Verlag wie oekom kann nicht diese Investition tätigen, die für Elsevier und andere möglich ist, und alles, was auf der Website steht, Open Access zur Verfügung stellen. Das Thema wird die GAIA also weiter beschäftigen.

 

Was ist die Perspektive der GAIA auf alternative Metriken, um wissenschaftliche Performance zu messen?

Es gibt ja inzwischen unterschiedliche Metriken, die beispielsweise aufführen, wie präsent man in der Blogosphäre ist. Aber wenn Sie sich dann irgendwo bewerben, dann müssen Sie eben doch Ihren h-Index, und die Summe Ihrer Drittmittel angeben. Im Moment ist das immer noch entscheidend.

Für die GAIA war es umgekehrt ein großer Schritt, vor einigen Jahren in die quantitativen Metriken reinzukommen als peer-reviewed journal, weil wir gemerkt haben, dass es das ist, was auch die Nachwuchsautor*innen wollen. Wir wollten mit der GAIA an der Stelle auch mit der Zeit gehen. Und dies war auch erfolgreich und ist weiterhin sinnvoll. Es gibt schon verschiedene Überlegungen, wie man die Dominanz quantitativer Metriken verändern kann, aber das kann von einer einzelnen Zeitschrift her nicht kommen. Das muss übergreifend in der ganzen Wissenschaftscommunity geschehen.

Interview: März 2020