Im Gespräch mit

Johannes Geibel

Büroleiter von Anna Christmann (Mitglied des Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen)

Lieber Johannes, was reizt dich an der Arbeit für eine Bundestagsabgeordnete?

Meiner Meinung nach herrscht in der Nachhaltigkeitscommunity teilweise eine hohe Technik- und Innovationsskepsis. Selbstverständlich ist nicht jede Innovation gesellschaftlich sinnvoll, aber ich würde dennoch sagen, dass auch in der grünen Partei die Bedeutung von Forschung und Innovation für die eigene Agenda nicht ausreichend gesehen wird. Ich glaube, das ist eine gute Spielwiese, wo man noch viel bewegen kann, und das reizt mich.

Foto © Michael Kotowski

Johannes Geibel studierte Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft. Zwischen 2013 und 2018 wirkte er als (stellvertretender) Vorstandsvorsitzender des netzwerk n. Seit Mai 2018 arbeitet er – mittlerweile als Büroleiter – für Dr. Anna Christmann, Mitglied des Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen, und befasst sich dabei mit innovations- und technologiepolitischen Fragen.

An welchen Punkten kann die Politik Einfluss darauf nehmen, worüber in Deutschland geforscht wird?

Themenspezifische Forschungsprogramme – wie beispielsweise FONA – oder große Verbundprojekte wie die Kopernikus-Projekte der Energiewende sind zentral, um in gesellschaftlich relevanten Bereichen Lösungen für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu entwickeln. Solche Forschungsprogramme und -projekte können viel leisten, doch damit sich neu entwickelte Technologien später am Markt durchsetzen, braucht es mehr als Millionen und Milliarden aus dem Forschungsministerium. Kluge Forschungspolitik muss umfassender denken. Beispiel Klimakrise: ohne einen ökonomisch wirksamen und langfristig ansteigenden CO2-Preis fehlen Wirtschaft und Wissenschaft die notwendigen und planbaren Investitionsanreize für saubere Technologien. Doch die braucht es, damit die von Wissenschaft und Wirtschaft entwickelten CO2-freien oder -armen Verfahren und Produkte dann auch eingesetzt werden.

Nach meiner Wahrnehmung wird das Thema Nachhaltigkeit von der Bundesregierung und gerade auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) durchaus gesehen. Allerdings fehlt mir da die notwendige Konsequenz. Die Hightech-Strategie hat zum Beispiel zwölf Missionen, von denen eine lautet: »Den Plastikeintrag in die Umwelt reduzieren«. Warum heißt diese Mission nicht: »Kreislaufwirtschaft im Bereich Plastik etablieren«? Was genau heißt »reduzieren«? Konsequente missionsorientierte Forschung hieße für mich, zum Beispiel Autoreifen so herzustellen, dass die Plastikpartikel, die durch Abrieb entstehen, zu 100% biologisch abbaubar sind. Es gibt also gute Ansätze, doch die Zielstellung ist nur halbherzig.

 

Wie können Forschungsmodi beeinflusst werden, also klassisch disziplinäre versus inter- oder transdisziplinäre Forschung?

Klassisch läuft es so ab, dass ein Sonderforschungsprogramm mit dem politisch gewünschten Fokus aufgesetzt wird, um damit ein bestimmtes Thema wie Transdisziplinarität voranzubringen. Beispielhaft können hier die Reallabor-Ausschreibungen des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums genannt werden. Aus einer politökonomischen Perspektive ist das sehr klug: man schafft damit eine Nische für die Pioniere und zwingt niemand anderem etwas auf. Für den Start ist das sicher gut und richtig, doch im Zeitlauf braucht es dann ein »Mainstreaming«: Anstatt neue und zusätzliche Forschungsprogramme zu starten, sollten Aspekte wie Inter- und Transdisziplinarität durch die schrittweise Integration in bestehende Forschungsprogramme zum neuen Standard werden. Ansonsten bleiben die Veränderungsimpulse gering, da die alten Programme ja bestehen bleiben, der überwiegende Anteil der Forscher*innen weiter macht wie bisher und lediglich einem kleinen Forschendenkreis ein Biotop gesichert wird.

Wichtig erscheint mit auch, im Zeitverlauf Forschungsprogramme nachzujustieren. Bei der Reallaborforschung in Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es eine Förderung, damit die Wissenschaft auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Unternehmen oder Kommunen einbinden kann. Aber auch dort könnte Transdisziplinarität noch weiter gedacht werden Denn warum sollen nur Akteur*innen aus der Wissenschaft antragsberechtigt sein? Warum kann nicht beispielsweise der BUND für ein Problem, für das er gerne eine Lösung hätte, die entsprechenden Wissenschaftler*innen und Unternehmenspartner*innen suchen, die dazu passen? Das ist für mich ein Beispiel für Transdisziplinarität, die noch etwas zu klein gedacht wird.

»Nach meiner Wahrnehmung wird das Thema Nachhaltigkeit von der Bundesregierung und gerade auch vom BMBF durchaus gesehen. Allerdings fehlt mir da die notwendige Konsequenz.«

Wer sind überhaupt wichtige wissenschaftspolitische Akteur*innen?

Zunächst einmal gilt ja Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes: »Lehre und Forschung sind frei«. Diese Freiheit hat jede*r einzelne Wissenschaftler*in, aber auch das Wissenschaftssystem als Institution. Und das zeigt sich konkret darin, dass der Bundestag nur bei großen strategischen Fragestellungen entscheidet. Das BMBF selbst ist im Vergleich dazu relativ autonom und einflussreich. Die Hightech-Strategie zum Beispiel wurde in der Weiterentwicklung nicht im Forschungsausschuss des Bundestags beraten, sondern der Bundestag wurde am Ende lediglich über die neue Strategie unterrichtet. Entwickelt wird sie vom BMBF im Austausch mit den entsprechenden Stakeholdern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Mitgestalten kann man also vor allem als Teil der Regierung. Im Vergleich mit anderen Politikfeldern ist das Politikverhältnis zwischen Exekutive und Legislative in der Forschungspolitik recht exekutivlastig.

Gerade durch die grundgesetzlich abgesicherte Wissenschaftsfreiheit ist die Wissenschaftspolitik auch stark »bottom up« strukturiert. Wenn sich eine kritische Masse für bestimmte Themen gebildet hat und entsprechende Forderungen stellt, dann ist das auch ein wichtiger Kanal, um Themen auf die politische Tagesordnung zu bringen. Das muss nicht immer über den Bundestag laufen.

 

Was ist die Rolle der EU-Forschungs- und Hochschulpolitik?

Auf der wissenschaftlichen Ebene sind vor allem die Grants des European Research Councils (ERC) interessant und prestigeträchtig. Und für europäische Verbundprojekte stellen die Fördertöpfe des europäische Forschungsrahmenprogramms Horizont 2020 (und bald Horizont Europa) die zentrale Finanzierungsquelle dar. Auch gilt, dass die EU-Gelder besonders für Länder mit eher prekärer Wissenschaftsfinanzierung wie Spanien, Griechenland, aber auch Italien von erheblicher Bedeutung sind.

Generell ist es ein Manko, dass die deutsche und europäische Politik noch nicht gut verzahnt ist. Ein gutes Beispiel dazu: aktuell werden mit dem European Innovation Council auf europäischer Ebene und SPRIND in Deutschland zwei Agenturen zur Förderung von Sprunginnovationen aufgebaut. Diese sollen hochrisikoreiche Forschung unkonventionell und damit disruptive Innovationen fördern. Da stellt sich schon die Frage, ob es dieser parallelen Strukturen bedarf. Wenn ich jetzt in Deutschland Innovationsmanager*in bin und für ein bestimmtes Problem nach Sprunginnovationen suche, dann ist mir eigentlich egal, ob diese aus Deutschland, Italien, der Schweiz oder aus Frankreich kommen. Da brauchen wir meiner Meinung nach nicht nur nationale Wege, sondern von Beginn an eine europäische Struktur.

»Für mich stellt sich die Frage, wie man dieses Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung in die konkrete Forschungsförderung übersetzt.«

Wo liegt aus politischer Sicht die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft und worin begründet sie sich?

Der vorhin zitierte Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes hat noch einen zweiten Satz, und da heißt es sinngemäß: Die Freiheit entbindet nicht von der Verfassungstreue. Da ist also der Zusammenhang Freiheit und Verantwortung schon zusammengebracht. Je freier man als Akteur*in ist, desto mehr trägt man auch Verantwortung für das größere Ganze, in das man eingebunden ist. Daher hat auch die Wissenschaft entsprechende Verantwortung und nimmt diese auch wahr.

Für mich stellt sich eher die Frage, wie man dieses Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung in die konkrete Forschungsförderung übersetzt. Beispiel Klimakrise: Hier könnte man einerseits mehr anwendungsorientierte Forschung fördern, um die zur Erreichung konkreter politischer Ziele notwendigen Lösungen aus der Forschung zu bekommen. Oder man macht es freiheitlicher, legt einen hohen CO2-Preis fest und stärkt signifikant die Grundlagen- und angewandte Forschung ohne Themenfokus. Damit ist dann auch klar, welche Lösungen wo gebraucht werden. Wahrscheinlich hat man im Endeffekt das gleiche Resultat.

Ein wichtiger Punkt sind hier für mich auch die Reputationssysteme in der Wissenschaft. Ist man wirklich so frei in der Wissenschaft, wenn im Grunde nur die Publikationsleistung zählt, um vorwärts zu kommen? Ist das eigentlich noch eine freie Wissenschaft? Für mich wäre eine freie Wissenschaft auch eine diverse Wissenschaft mit einer größeren Bandbreite an Reputationskriterien und unterschiedlichen Karrierepfaden.

»Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation? Ist irgendwann eine wöchentliche Kolumne in einer renommierten Tageszeitung genauso viel wert wie ein Artikel in einem angesehenen wissenschaftlichen Journal?«

Im letzten Jahr hat das BMBF das Jahr der Wissenschaftskommunikation ausgerufen, kürzlich wurde ein »Grundsatzpapier Wissenschaftskommunikation« veröffentlicht. Wie bewertest du das?

Bei Wissenschaftskommunikation geht es um die Frage, inwiefern Wissenschaft über ihre eigenen wissenschaftsinternen Kanäle hinaus kommuniziert. Da finde ich das Papier des BMBF inhaltlich etwas dünn, aber es enthält zwei relevante Punkte. Der erste betrifft genau diese Reputationsfrage: Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation? Ist irgendwann eine wöchentliche Kolumne in einer renommierten Tageszeitung genauso viel wert wie ein Artikel in einem angesehenen wissenschaftlichen Journal? Beginnt man, so etwas gegeneinander aufzuwiegen, weil man eine Diversität an Kriterien hat? Ich halte es nicht für sinnvoll, dass jetzt jede*r Wissenschaftler*in seinen eigenen Blog haben sollte und auf Twitter, Facebook und Instagram aktiv sein muss. Aber ich würde es für sinnvoll halten, dass man die Reputationskriterien breiter fasst und sagt: Wenn das jemand will und kann, dann wird es auch anerkannt. Diese Diskussion auch mit den Spitzen der Wissenschaft zu führen, ist wichtig, und das soll jetzt passieren.

Die andere Frage ist die nach zusätzlichen Mitteln: Soll es in der BMBF-Projektförderung ein Top-up geben, wenn jemand ein Projekt auch wissenschaftskommunikativ begleiten will? Sollte so etwas freiwillig sein oder sollte es verpflichtend sein? Das sind alles relevante Fragen.

Ein weiteres zentrales Feld ist auch die Verbindung zum Wissenschaftsjournalismus. Journalismus muss aus guten Gründen staatsfern finanziert werden. Man muss sich aber schon überlegen, welche Entwicklung der Journalismus in den letzten Jahren und Jahrzehnten genommen hat und inwiefern man insbesondere Intermediäre, die dort anfangen, wo Wissenschaft aufhört und dort enden, wo Journalismus beginnt, besser unterstützen kann. Da gibt es innovative Modelle, wie zum Beispiel das Science Media Center in Köln, die proaktiv Forschungsliteratur sichten und schauen, was daraus für den Journalismus spannend sein könnte. Für solche Akteur*innen bräuchte es mehr und innovativere Förderung.

 

Das FONA-Programm wirkt sehr technologielastig. Welchen Stellenwert hat darin aus deiner Perspektive die sozial-ökologische Forschung?

In der Tat ist das Forschungsrahmenprogramm FONA sehr technologielastig. Darin spiegelt sich auch die lange Geschichte des BMBF wieder – dieses wurde 1972 als Bundesministerium für Forschung und Technologie gegründet. Das wirkt bis heute nach und erzeugt ein Innovationsverständnis, welches weiterhin technologische gegenüber sozialen Innovationen priorisiert. Der Grundgedanke ist noch oft: Wir fördern diese Forschung, um unseren Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Die Förderung sozialer Innovationen durch das Forschungsministerium fristet weiterhin ein absolutes Nischendasein. Das merkt man auch bei SÖF: Trotz steigender Mittel in den letzten Jahren ist die Finanzierung weiterhin sehr überschaubar.

Für zentral halte ich auch eine stärkere Missionsorientierung in der angewandten Forschungsförderung. Deshalb finde ich die Kopernikus-Projekte zur Energiewende als neuen Forschungsmodus sehr spannend. Dort war der Ausgangspunkt nicht ein Themenfeld oder Technologiebereich, sondern eine klare Mission: »Wir wollen die Energiewende hin zu 100 Prozent Erneuerbare Energien erreichen. Wo liegen die Hürden, um an dieses Ziel zu kommen?« Diese Hürden werden dann adressiert – nicht in kleinteiligen Projekten, sondern in großen Verbundprojekten, wo am Ende ein Impact entsteht. Zuerst das Ziel zu definieren und dann zu schauen, wo noch Innovationshürden bestehen, die dringend erforscht werden sollten, ist ein vielversprechender neuer Forschungsmodus. Dieser sollte auch auf weitere Bereiche wie Landwirtschaft und Verkehr ausgebaut werden.

»Man sollte Finanzpolitik und Ordnungsrecht konsequent mit Innovationspolitik zusammen-denken. Ohne einen angemessenen CO2-Preis können wir noch so viel forschen: Die Innovationen werden nicht in den Markt kommen.«

Was fordern die Grünen, um die sozial-ökologische Forschung in Deutschland ernsthaft voranzubringen?

Erstens sollte man Finanzpolitik und Ordnungsrecht mit Innovationspolitik konsequent zusammendenken. Ohne einen angemessenen CO2-Preis können wir noch so viel forschen: Selbst, wenn die Innovationen einmal da sind, werden sie nicht in den Markt kommen, solange Öl, Gas und Kohle zu billig sind. In anderen Bereichen, wie bei Plastik oder sonstigen verwertbaren Stoffen, braucht es mehr ordnungsrechtliche Vorgaben, um geschlossene Kreisläufe zu etablieren.

Themen wie Transdisziplinarität und Citizen Science sind definitiv grüner Markenkern. Da gibt es auch in einzelnen Bundesländer wie in Baden-Württemberg Vorreiterprogramme, auf denen man auf Bundesebene aufbauen könnte. Ich halte es für absolut zentral, dass man nicht immer einzelne neue Programme auflegt, sondern seinen politischen Forderungskatalog in bestehende Programme integriert. Beispiel Transdisziplinarität: Dabei muss man allerdings bedenken, dass Forschende auch transdisziplinär forschen können müssen. Transdisziplinarität einfach nur irgendwo als neues Kriterium reinzuschreiben, wird von heute auf morgen nicht funktionieren, weil die Forschenden damit keine Erfahrung haben. Auch das muss erst gelernt werden. So etwas muss also mit Weiterbildungs- und Capacity Building-Programmen begleitet werden, in denen bestehende Akteur*innen ihr Wissen und ihre Erfahrung mit diesem neuen Forschungsmodus weitergeben. Sonst wird es zwar in die Forschungsanträge geschrieben, aber in der Forschungspraxis ändert sich nichts.

Zuletzt muss mehr Geld in klassische Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen mit klaren inhaltlichen Schwerpunkten fließen. Stichworte sind hier Forschung zu klimaneutralen Technologien und Kreislaufwirtschaft. Da muss noch viel mehr passieren als bisher. Es geht aber nicht nur um mehr Geld für anwendungsorientierte Forschungsprogramme. Es geht auch um einen neuen Forschungsmodus, den ich tatsächlich »Kopernikus-Prinzip« nennen würde: Gemeinsam ein politisches Ziel definieren, über Studien sozio-technologische Hürden identifizieren und deren Überwindung dann in kooperativen Projekten erforschen. Das werden wir viel stärker als bisher brauchen.

 

Was möchtest du Nachwuchswissenschaftler*innen mit auf den Weg geben?

Mein ehemaliger Mathelehrer in der Schule hat mir einen weisen Spruch mitgegeben: »Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.« Das ist im Grunde banal, wenn man sich einen Fluss vorstellt. Übertragen auf die Wissenschaft: Gerade hier ist sehr wichtig, in den Widerspruch zu gehen, ja, diesen zu feiern. Das ist es ja, was Wissenschaft im Kern ausmacht: Immer wieder in Zweifel stellen, immer wieder hinterfragen – wo dies geschieht, wird es spannend.

Interview: April 2020