Im Gespräch mit

Mandy Singer-Brodowski

Co-Autorin von Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem

Liebe Mandy, was macht eine transformative Wissenschaft für dich aus?

Für mich bedeutet transformative Wissenschaft die Selbstanwendung von Nachhaltigkeitskriterien auf die Einrichtungen wissenschaftlicher Wissensproduktion. Wie können sich Hochschulen, außeruniversitäre Forschungsinstitute, aber auch förderpolitische Gremien, Wissenschaftspolitik auf Landes- und Bundesebene, an den Kriterien von Nachhaltigkeit orientieren, und Ableitungen daraus für die Orientierung von Forschung, Lehre und weiteren Hochschulbereichen im Hinblick auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit treffen?

Foto © Gordon Welters/Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)

Mandy Singer-Brodowski studierte Erziehungswissenschaft und gründete während ihres Studiums das netzwerk n. Aktuell arbeitet sie am Institut Futur der FU Berlin und forscht dort zu Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung, transformativer Wissenschaft und transformativem Lernen (Profil). Sie ist Co-Autorin von Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem.

Was sind aus deiner Sicht gerade in Deutschland die größten Herausforderungen im Governance Bereich für eine transformative Wissenschaft?

Das Hochschulsystem ist sehr schwer steuerbar, weil die Wissenschaftsgemeinschaften durch eine spezifische Suche nach Autonomie, innerwissenschaftliche oder innerdisziplinäre Schließungsprozesse geprägt sind. Die Spezialisierung verschiedener wissenschaftlicher Felder, auch in den einzelnen Disziplinen, ist ein originäres Kriterium von Wissenschaft, was zur Weiterentwicklung von wissenschaftlichen Erkenntnissen per se auch nicht schlecht ist, sondern eine Errungenschaft unserer Moderne. Zugleich steht es aber in einem Spannungsfeld zu den massiven Anforderungen einer inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit zur Lösung gesellschaftlicher Problemstellungen wie Klimawandel, dem Verlust an Biodiversität, der geringer werdenden sozialen Kohäsion – auch global betrachtet – und so weiter.

Aus meiner Perspektive gibt es nur einige wissenschafts- und förderpolitische Formate, die diesem Spannungsfeld aktiv entgegensteuern können und dies auch explizit wollen. Ich erlebe in dem Diskurs der vergangenen Jahre eher, dass man vorsichtig ist mit einer zu expliziten Fokussierung auf gesellschaftlich relevante Themenstellungen, weil man Angst davor hat, dass Wissenschaft instrumentalisiert wird. Man will eine »solutionistische« Verengung von Wissenschaft jenseits der wissenschaftlichen Neugierforschung vermeiden, wie das Strohschneider formuliert hat. Das führt dazu, dass im Hinblick auf die Governance von Hochschulen für Nachhaltigkeit wenig überzeugende Konzepte existieren.

 

Wo wären geeignete Diskursräume, um über diese Fragen in der Wissenschaft, aber auch in der breiteren Gesellschaft zu sprechen und gemeinsam zu Strategien zu kommen, wie man damit umgeht?

In den Medien gibt es besonders in der Klimafrage aktuelle Diskurse im Hinblick auf die Beförderung von Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Ich denke an eine Debatte im Tagesspiegel, die angestoßen wurde über die Fridays for Future-Bewegung und das Engagement von Scientists for Future-Mitgliedern auf den Demos. Da gab es Stimmen, die gesagt haben: Wissenschaft sollte sich nicht zu stark in diesem gesellschaftlichen Diskursraum engagieren und damit aktivistisch werden. Und es gab aber auch sehr prominente Gegenstimmen, wie die Präsidentin des WZB Jutta Allmendinger, die ganz klar Position bezogen haben: Wissenschaft steht immer in Verbindung mit gesellschaftlichen Diskursen, wissenschaftliche Politikberatung findet immer statt mit gesellschaftlichen Akteur*innen. Solche medialen Diskurse sind wichtig.

Wichtig sind aber auch, und das vermisse ich etwas, die politischen Diskurse in den Parlamenten über die Ausrichtung einer geeigneten Wissenschaftspolitik, die diese Fragen aufgreift, nicht darauf reduziert, aber offensiv thematisiert. Was wir beispielsweise im Rahmen unserer Dokumentenanalysen am Institut Futur herausgefunden haben, ist, dass es zumindest in einigen Bundesländern schon sehr aktive Versuche gab, hochschulpolitische Anreize auf das Thema Nachhaltigkeit auszurichten. Diese Bemühungen wurden aber stark zurückgenommen, vor allem in Nordrhein-Westfalen, wo der Hochschulvertrag, die Ziel- und Leistungsvereinbarung, aber auch der landesweite Hochschulentwicklungsplan sehr stark das Thema Nachhaltigkeit und sozial-ökologische Innovationen integriert hatten, was von den Hochschulleitungen selbst kritisiert und von der nächsten Regierung wieder rückgängig gemacht wurde.

»Ich vermisse die politischen Diskurse in den Parlamenten über die Ausrichtung einer geeigneten Wissenschaftspolitik, die diese Fragen aufgreift und offensiv thematisiert.«

Gerade ist der Diskurs um transformative Wissenschaft noch ein Nischenthema. Wie kann er da realistisch rauskommen?

Ich würde sagen, transformative Wissenschaft war zunächst eine Nadel, die sehr provokativ reingepikst hat in einen sehr strukturkonservativen Hochschul- und Wissenschaftsdiskurs. Deswegen wurde sie auch so angefeindet. Ich weiß gar nicht, ob es unter dem Label transformative Wissenschaft zu mehr Breite oder zu mehr Wirksamkeit kommen muss, das würde ich gar nicht so sehen. Vielmehr wären es für mich Zeichen dafür, dass sich dieser Diskurs weiterentwickelt und Wirksamkeit entfaltet, wenn die inhaltlichen Aspekte einer sich stärker öffnenden Wissenschaft breiter diskutiert würden: eine stärker Partizipation zulassende und fördernde Forschungsstruktur, bis hin zu Kriterien im Hinblick auf die Berufungsverfahren von Professuren, Kriterien für die Begutachtung von Drittmittelanträgen, ob da Societal impact als adäquater Ansatz mit berücksichtigt werden soll. Es muss nicht immer unter dem Label transformative Wissenschaft sein.

 

Ist die von dir angesprochene Sorge um die Wissenschaftsfreiheit und die Instrumentalisierung von Wissenschaft weit verbreitet oder sind das eher einzelne Stimmen, die das dann auch mit einer eigenen Agenda vortragen?

Das ist eine schwierige Frage, weil ich meine Einschätzung auf Einzelwahrnehmungen stütze, was medial rezipiert oder auf bestimmten Veranstaltungen kommuniziert wird, und das ist natürlich nicht repräsentativ. Es wäre ein super spannendes Forschungsprojekt, die Sorge um die Wissenschaftsfreiheit und die Instrumentalisierung der Wissenschaft zu untersuchen. Mein Eindruck ist aber schon, dass mit den zunehmenden Erfolgen dieser Öffnungs- und Demokratisierungsbewegungen der Wissenschaft auch der Widerstand dagegen größer geworden ist. Es wird zunehmend davor gewarnt, begründet mit Vereinnahmungsversuchen der Wissenschaft zum Beispiel in Ungarn oder in den USA, dass man mit so einer starken Orientierung der Wissenschaft an gesellschaftlichen Problemlagen Gefahr läuft, ihre Freiheit zu beschränken. Diese Stimmen werden lauter, während zeitgleich die Impulse zur Praxis einer anders ausgerichteten Wissenschaft stärker werden.

»Ich diskutiere mit Studierenden immer, dass es sehr relevant ist, die eigene Rolle und das eigene Verhalten in einem transdisziplinären Forschungsprozess zu reflektieren.«

Was ist deiner Erfahrung nach wichtig, wenn sich Wissenschaft für Praxisakteur*innen öffnet?

Es kommt darauf an, an welcher Stelle in einem Forschungsprozess diese Öffnung stattfindet. Es kann ja durchaus verschiedene Gründe geben, Öffnung ganz am Anfang stattfinden zu lassen und gemeinsam mit nicht-wissenschaftlichen Akteur*innen gemeinsame Fragestellungen zu eruieren. Das fällt nicht-wissenschaftlichen Akteur*innen in der Regel sehr schwer. Dafür ist es wichtig, ausreichend Zeit einzuplanen. Zudem ist in der transdisziplinären Forschung die Idee von Moderation ganz entscheidend: Da sind möglicherweise auch sehr konfliktäre Interessen oder unterschiedliche Logiken im Raum, unterschiedliche Sprachen, für die es Übersetzung braucht. Dafür leisten wir uns externe Instanzen, die diese verschiedenen Interessen miteinander ins Gespräch bekommen.

Ich diskutiere mit Studierenden auch immer, dass es sehr relevant ist, die eigene Rolle in diesem Forschungsprozess zu reflektieren, auch das eigene Verhalten, weil der Habitus natürlich ein anderer ist, wenn ich aus der Wissenschaft komme, als wenn ich aus der Praxis komme, die vielleicht auch nicht akademisch gebildet ist. Das ist ja auch nochmal eine große Unterscheidung: Mit welcher Praxis sprechen wir eigentlich? Für welche Praxis sollen die Ergebnisse aufbereitet werden?

Diejenigen, die sich von Seiten der Praxis an diesen Wissenschafts-Praxis-Schnittstellen engagieren, sind in der Regel hoch vorgebildet und haben einen sehr guten Zugang zu Wissenschaft. Ich mache mir mehr Sorgen über diejenigen, die Wissenschaft insgesamt skeptisch gegenüberstehen und deren Problemstellungen von den wissenschaftlichen Forschungsprojekten möglicherweise dann weniger gezielt aufgegriffen werden, und wo die Übersetzungsproblematik natürlich viel größer ist. Das ist eine Suchrichtung, die ist sowohl für Wissenschaftler*innen als auch gesamtgesellschaftlich relevant und wichtig, also die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und Integrationsfähigkeit.

 

Inwiefern können transdisziplinäre Prozesse helfen, dass wissenschaftliche Ergebnisse stärker von der Gesellschaft aufgegriffen werden?

Bei uns am Institut haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, in der Erstellung von Studien, aber auch direkt vor der Veröffentlichung von Praxispublikationen mit den Akteur*innen, die bestimmte Ergebnisse verwenden könnten, Sachen auf Zielsetzung und Verständlichkeit hin prüfen zu lassen. Das ist  ein gezieltes Feedback durch Externe: Ist das verständlich und hilfreich? Interessanterweise erlebe ich, dass wir in gewissen Studien manchmal sehr progressiv Empfehlungen abgegeben haben, ohne zu dem Zeitpunkt genau einschätzen zu können, inwiefern diese Empfehlungen in einer bestimmten Konstellation von Akteur*innen realistisch oder umsetzbar sind. Diese konkreten Empfehlungen wurden aber von den politischen Akteur*innen am besten aufgegriffen.

Viele scheuen sich davor, aus bestimmten Analysen zu konkreten Empfehlungen zu kommen. Je konkreter aber die Empfehlungen sind, je leichter man es adaptierbar macht für politische oder zivilgesellschaftliche Akteur*innen, desto eher wird es auch aufgegriffen. Das zeigt auch die Forschung zum Science-Policy-Interface: Einfache Sprache erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Evidenzbasis genutzt wird. Das hat natürlich auch seine Schattenseiten. Ein letzter Punkt betrifft tatsächlich den persönlichen Austausch. Die Forschung zeigt, dass die Zeit, die Wissenschaftler*innen mit Nicht-Wissenschaftler*innen zusammen verbringen und über Ergebnisse sprechen, entscheidend ist, ob wissenschaftliche Ergebnisse von nicht-wissenschaftlichen Akteur*innen wie Politiker*innen aufgegriffen werden.

»Je konkreter die Empfehlungen sind, je leichter man es adaptierbar macht für politische oder zivilgesellschaftliche Akteur*innen, desto eher wird es auch aufgegriffen.«

Du hast viel zu Reallaboren geforscht. Was macht für dich ein Reallabor aus?

Reallabore sind sehr stark davon gekennzeichnet, dass Wissenschaft neue Allianzen initiiert und impulsgebend wirkt durch die Anbahnung neuer Kooperationen, durch das Initiieren bestimmter Formate. Das zeichnet für mich ein Reallabor aus, auch im Verhältnis zu transdisziplinärer Forschung: diese impulsgebende, initiierende Rolle der Wissenschaft, die in den transdisziplinären Forschungsprojekten schon auch da ist, aber nicht in dem Ausmaß pointiert angestrebt wird. Diese Forschungsinfrastruktur, die durch Reallabore geschaffen wird, ist anders gewichtet als bei transdisziplinärer Forschung. Es steht nicht nur die Wissensintegration zwischen Wissenschaft und Praxis im Vordergrund, sondern dieses gemeinsam etwas Voranbringen. Das birgt auch Gefahren für die Wissenschaft. Viele Kolleg*innen sagen: Wir sind dann nur noch die Projektmanager*innen für lokale Transformationsprozesse und kommen nicht mehr zu unserer eigenen Forschung. Da gibt es also Trade-offs, die wichtig sind zu berücksichtigen.

 

Worin siehst du die katalytische Funktion von Reallaboren?

An Reallaboren finde ich spannend, dass sie neue Netzwerke kreiren, in denen Akteur*innen zusammenkommen, die so vorher noch nie miteinander gesprochen haben. Da sehe ich auch die große Impulskraft vonseiten der Wissenschaft, diese Netzwerke zu initiieren und damit neue Formen der Kooperation zu schaffen, in denen sich Menschen aus ganz verschiedenen Kontexten begegnen können.

In Reallaboren passiert ganz viel Lernen voneinander, über bestimmte Nachhaltigkeits- oder Transformationsfelder, die Energiewende im ländlichen Raum, die Textilwende wie in einem Reallabor in Baden-Württemberg oder die Stadt-Transformationsprojekte aus Karlsruhe. Ich finde, da ist ganz viel Musik drin, gerade dadurch, dass es ein von der Wissenschaft initiiertes Konstrukt zwischen Wissenschaft und anderen Akteur*innen darstellt. Die spannende und noch unbeantwortete Frage ist: Wie kann es eigentlich weitergehen, wenn das Projekt ausgelaufen ist? Wie können diese Netzwerke sich langfristig etablieren?

»Die Transformation ist kein Sprint, das ist ein Langstreckenlauf. Da ist es wichtig, achtsam mit den eigenen Ressourcen zu sein und immer wieder gemeinsam mit anderen die Höhen und Tiefen zu reflektieren und zu gestalten.«

Müssen diese Impulse, von denen du sprichst, immer von der Wissenschaft ausgehen, oder können sie genauso gut von Unternehmen, der Zivilgesellschaft oder der Politik kommen?

Das gibt es mit Sicherheit auf Unternehmensseite: Dass sich R&D-Abteilungen explizit wissenschaftliche Expertise dazuholen. Das gibt es auch klassischerweise bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, die – wie zum Beispiel bei Greenpeace – das Nachhaltigkeitsbarometer ausschreiben und mit Wissenschaftler*innen kooperieren im Hinblick auf das Design und die Durchführung einer großen Jugendstudie. Das gibt es auf politischer Seite genauso. Aber Wissenschaft ist eigentlich der einzige Ort, wo systematisch über Fragen von gesellschaftlicher Weiterentwicklung nachgedacht werden kann, weil sie in gewisser Weise handlungsbefreit ist. Ich glaube, dass die Wissenschaft der beste Ort der Institutionalisierung einer spezifischen Freiheit ist, über gesellschaftliche Problemstellungen anders nachzudenken, jenseits der klassischen naturwissenschaftlichen Klimaforschung, gerade in Bezug auf die Sozialwissenschaften.

 

Was möchtest du jungen Menschen mit auf den Weg geben?

Ein ganz wichtiges Learning für mich ist tatsächlich, dass es sich lohnt, an Herzensthemen dranzubleiben und da auch länger drum zu kämpfen. Dieser Diskurs um transformatives Lernen zum Beispiel hat am Anfang sehr viel Widerstand provoziert, wenn ich das mit wissenschaftlichen Kolleg*innen diskutiert habe. Jetzt überrascht mich das starke Interesse daran. Das zeigt mir, dass diese Suche nach neuem Wissen und das Dranbleiben an spezifischen Themenstellungen wichtig ist, egal wie populär sie sind oder wie harmonisch sie sich einpassen in einen bestimmten anderen Forschungsstand.

Als Empfehlung würde ich mitgeben, sich nicht so leicht entmutigen zu lassen, wenn es in einer Phase nicht so einfach funktioniert, wie man sich das gewünscht hätte. Dann muss man sich durchbeißen und Widerstände als Lernchance nutzen, indem man sich mit anderen zusammentut und sagt: Wir nutzen, dass das hier nicht so gut funktioniert, als Moment, um besser zu verstehen, warum es nicht funktioniert. Das hilft, um sich weiterzuentwickeln und um da kontinuierlich dranzubleiben. Die Transformation ist kein Sprint, das ist ein Langstreckenlauf. Da ist es wichtig, achtsam mit den eigenen Ressourcen zu sein und immer wieder gemeinsam mit anderen die Höhen und Tiefen zu reflektieren und zu gestalten.

Ich habe viele begabte Nachwuchswissenschaftler*innen gesehen, die frustriert von dem sehr konservativen und machtdurchsetzten Wissenschaftssystem waren, die dann rausgegangen sind aus der Wissenschaft. Das tut mir immer persönlich leid, weil es genau solche Leute braucht, die kritisch sind mit dem Wissenschaftssystem, wie es jetzt existiert, die sich nicht einfach einordnen, sondern auch mal widerständig zeigen. Daher mein Plädoyer: Einfach dranbleiben, Verbündete suchen und weitermachen, auch wenn es manchmal nicht so einfach scheint.

Interview: Februar 2020