Im Gespräch mit

Reinhard Pfriem

Mitherausgeber von Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung

Lieber Herr Pfriem, was macht transformative Wissenschaft für Sie aus?

Der Begriff transformative Wissenschaft bezieht sich auf den Transformationsbegriff in Richtung einer besseren Gesellschaft. Nicht so wie bei Karl Polanyi, sondern gemäß dem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU) von 2011. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Wissenschaft gesellschaftsbeeinflussende und -verändernde Wirkung hat. Diese normative Orientierung auf eine bessere Welt, auf mehr Nachhaltigkeit in ökologischer, aber gerade auch sozialer Hinsicht, die wollen wir mit diesem Begriff markieren und deutlich machen.

Reinhard Pfriem war bis 2017 Professor für Unternehmensführung und betriebliche Umweltpolitik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. nachhaltige Unternehmensstrategien und die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. Er war 1985 Initiator und Mitbegründer des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Von 2009 bis 2016 war er Wissenschaftlicher Leiter der Spiekerooger Klimagespräche. Er ist Mitherausgeber von Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung.

Sie haben den Begriff der Möglichkeitswissenschaften geprägt. Was ist der Ursprung dieses Begriffs?

Ich bin vor zehn Jahren dadurch auf diesen Begriff der Möglichkeitswissenschaften gekommen, dass ich schon vor Jahrzehnten begeisterter Leser des wunderbaren Romans Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil war. Da steht der klassische Satz drin, den ich nie vergessen habe: »Wo es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.« Der Begriff der Möglichkeitswissenschaft bezieht sich absichtsvoll direkt auf die Akteure, nicht nur auf individuelle Akteure, sondern auch auf Unternehmen als kollektive Akteure, als Organisationen. Es geht um die Bedingungen, Möglichkeiten und Hemmnisse von Akteuren, etwas zur Verbesserung der Zustände und der Welt beizutragen. Möglichkeitswissenschaft ist das Ausloten dieser Handlungsmöglichkeiten, und natürlich auch der Probleme für Akteure, das zu tun.

Was den Begriff der transformativen Wissenschaft angeht oder den Transformationsbegriff, bin ich nicht frei von Fragezeichen und Problemen, weil der Begriff der Transformation, wie ihn der WBGU verwendet, eigentlich gesellschaftstheoretisch ziemlich hohl ist. Ich denke, dass diese ganze Vorstellung von neuem Gesellschaftsvertrag gesellschafts- und wirtschaftstheoretisch nicht wirklich fundiert ist. Da ist mir ein Aufgreifen von Marx und Engels heute fast ergiebiger. Oder aktueller: Der französische Ökonom Thomas Piketty sagt in seinem neuen, faszinierenden Buch Kapital und Ideologie, dass ohne Veränderungen von Steuerpolitik und ohne Korrekturen an Eigentumsverhältnissen keine soziale Gerechtigkeit in dieser Welt möglich ist. Dabei breitet er eine Vielfalt von meines Erachtens wirtschafts- und gesellschaftstheoretisch deutlich klareren sowohl Kritikpunkten als auch Vorschlägen aus, als es häufig mit den Begriffen Nachhaltigkeit und Transformation verbunden ist. Insofern hat natürlich auch der Begriff der transformativen Wissenschaft oder transformativen Wirtschaftswissenschaft seine Grenzen beziehungsweise muss überhaupt konkret erst weiter gefüllt werden.

 

Sie haben kritisiert, dass der WBGU in seinem Gutachten zur Großen Transformation von 2011 ein konservatives Bild der Unternehmenslandschaft zeichnet. Woran machen Sie das fest?

In dem Gutachten wird überhaupt nicht sozialökonomisch von einer Veränderung der Unternehmenslandschaft ausgegangen, sondern lediglich gesagt, dass Unternehmen ihre Energieeinsätze und ihre Materialflüsse reduzieren sollen.  Dabei gibt es viele Beispiele für Unternehmenstypen, die grundsätzlich nicht nur ökologisch, sondern gerade auch sozialökonomisch anders funktionieren, zum Beispiel Energiegenossenschaften, unternehmerische Initiativen wie die Regionalwert AG im Freiburger Raum, Vermarktungskooperativen, das Kartoffelkombinat oder solidarische Landwirtschaft. Diese Teile der real existierenden Unternehmenslandschaft kommen in dem WBGU-Gutachten von damals gar nicht vor. Es wird nur ein Blick auf die traditionellen Unternehmen geworfen, und das auch nicht mit hinreichender Radikalität. Dabei muss sich, wenn wirklich eine Kehre gelingen soll, auch diese konventionelle Unternehmenslandschaft in Zukunft noch drastisch verändern. In der Mobilitätswirtschaft jetzt nur auf Elektro- oder Wasserstoffantriebe zu starren, ist eine totale Sackgasse gegenüber dem, was als Mobilitätswende in Richtung lebenswerter Städte eigentlich notwendig wäre.

»Die Vorstellung eines neuen Gesellschaftsvertrags ist gesellschafts- und wirtschaftstheoretisch nicht wirklich fundiert.«

Hat sich der Diskurs seitdem weiterentwickelt?

In jüngster Zeit tut sich da was, Piketty ist nur ein Beispiel. Wir haben uns auf das WBGU-Gutachten durchaus sehr positiv bezogen, das war eine sehr verdienstvolle Sache. Aber man muss eben ganz klar sagen, welche radikalen Veränderungen erforderlich sind, wenn den Anforderungen an eine lebens- und liebenswerte Zukunft Genüge getan werden soll. Das geht in solchen Bereichen wie Landwirtschaft oder Mobilität, Verkehr oder auch Energie nur damit, dass nicht nur technische Träger oder Treibstoffe ausgetauscht werden, sondern dass strukturell sozialökonomische Veränderungen stattfinden, also in Richtung Dezentralisierung, eben auch von Entscheidungsstrukturen und von Eigentumsverhältnissen. Das ist nicht nur eine ökonomische Frage, sondern es muss auch insgesamt eine Veränderung kommen, was die politischen Entscheidungsstrukturen angeht. Also etwas plakativ gesagt: Von der Wahldemokratie zu einer Beteiligungsdemokratie. Es müssen ganz andere Formen der Beteiligung von Menschen gefunden werden, als wir das heute nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland haben. Sonst gelingt der Übergang zu einer lebenswerten Zukunft nicht, da muss man sich keine Illusionen machen.

 

Unserem Eindruck nach wird der Diskurs um transformative Wissenschaft in den Wirtschaftswissenschaften engagierter geführt als in anderen, auch gesellschaftlich relevanten Disziplinen. Wie erklären Sie sich das?

Man darf das nicht überschätzen. Ich denke, dass es ein großes Manko ist, dass sich dieses Vorhaben gegenüber der etablierten Struktur des wirtschaftswissenschaftlichen Betriebs nach wie vor so randständig oder gar außenständig bewegt. Und dass die Kreise, die sich für transformative Wirtschaftswissenschaft engagieren, in den vergangenen Jahren zu wenige Anstrengungen unternommen haben, diese Ideen wirklich in den etablierten Wissenschaftsbetrieb hinein zu tragen und zu verankern.

Das ist natürlich auch ein großes Problem angesichts der modernen Wissenschaftskultur, gerade in den Wirtschaftswissenschaften, wo es darauf ankommt, von einem Aufsatz in einem wichtigen internationalen Journal zum nächsten zu hetzen und die gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten gar nicht so eine Rolle spielen, auch bei Berufungsverfahren zum Beispiel. Das übt alles einen unangenehmen Druck auf diese Herausforderungen aus. Aber hart gesagt: Wenn ich zurückblicke auf meine Jahrzehnte wissenschaftlicher Tätigkeit, dann waren wir etwa in Kommissionen des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB), was die Präsenz von solchen Positionen wie unseren in diesem etablierten Betrieb angeht, vor 15, 20 Jahren schon mal weiter als heute. Das ist natürlich eine traurige Bilanz.

»Bei transformativer Wirtschaftswissenschaft geht es vor allem um die Transformation der nicht-pluralen Ökonomik, die an den Universitäten gelehrt und geforscht wird.«

An welcher Stelle könnte man so einer Tendenz entgegenwirken?

Wichtig wäre, dass trotz alledem, trotz dieser eigentlich anders gearteten Anreize auf Laufbahn, Erfolg und erfolgreiche Berufungsverfahren, die Menschen der nachrückenden Generation wie Ihrer sich darum bemühen, Stellen im Wissenschaftsbereich zu erlangen und in diesen Betrieb hineinzukommen. Mittelfristig ist es nun mal bei aller Freude über das Netzwerk Plurale Ökonomik, über den Masterstudiengang Plurale Ökonomik in Siegen, über die Cusanus Hochschule und über die universitätsunabhängigen Institute nach wie vor eine randständige Position. Wenn wir von transformativer Wirtschaftswissenschaft reden, dann geht es ja vor allem um die Transformation der nicht-pluralen Ökonomik, die an den Universitäten gelehrt und geforscht wird. Und da sieht es im Moment nicht gut aus. Das muss man ganz klar sagen.

Da müssten vielleicht auch mehr Anstrengungen unternommen werden, auf den etablierten Wissenschaftsbetrieb einzuwirken und sich mit ihm zu verflechten. Es ist ja nicht so, dass auf Lehrstühlen an Hochschulen überhaupt keine kritischen Geister mehr säßen. Vielleicht müsste man da auch stärker aktiv auf Dialog und Zusammenarbeit und gemeinsame Forschungsprojekte drängen und nicht, wie ich manchmal tatsächlich in letzter Zeit verstärkt den Eindruck habe, sehr selbstgenügsam im eigenen Bereich der kritischen Geister bleiben.

 

Wo sehen Sie bei den Forderungen nach einer Großen Transformation Konfliktpotenzial?

Ich kann dazu eine anregende theoretische Quelle nennen: Agonistik von der belgischen Soziologin Chantal Mouffe. Die Kernthese ist eine Kritik daran, Widersprüche zu verschweigen und nicht auszutragen. Für die Positionen zu gesellschaftlicher Transformation, für die ich mich einsetze, muss, gerade wenn man sich nicht gegenseitig zum Feind machen will, in einer anderen Weise gestritten und Klartext geredet werden. Das ist nicht nur eine Sache auf der rhetorischen Ebene, sondern es geht in der ganzen Auseinandersetzung um zukünftige Entwicklungen darum, dass es nicht nur Gewinner*innen geben kann und dass man auch nicht für alle den Eindruck erwecken darf, dass sie Gewinner*innen sind.

Wenn man beispielsweise hohe Einkommens- und Vermögenssteuern fordert, dann rührt man natürlich an gesellschaftlichen Tabus, und dann gibt es auch Konflikte und Auseinandersetzungen. Das geht nicht ohne politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen ab, und man muss sich von der Vorstellung lösen, unsere Ideen von Nachhaltigkeitstransformation wären etwas, was alle nur toll finden können. Neben dem Feld von Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern sind etwa Eigentumsverhältnisse und die Frage, wie wirtschaftliche und auch politische Entscheidungen zustande kommen, wichtige Themen, mit denen sich an Gerechtigkeit orientierte Ökonom*innen streitbar auseinandersetzen müssen. Und natürlich auch die strategischen Geschäftsmodelle von Unternehmen, in ökologischer wie in sozialer Hinsicht. Die Notwendigkeit dieser Veränderungen hinreichend deutlich zur Sprache zu bringen und dann auch die Auseinandersetzungen zu führen und im Zweifel auch gegen die zu führen, die sich dagegen wehren, das ist unbedingt notwendig. Dieses Verschleiern und unter der Decke Halten von eigentlich zu führenden Konflikten und Auseinandersetzungen, das ist meines Erachtens ein ganz großes Problem in der heutigen Zeit.

»Wenn es nicht gelingt, Streitkultur wieder zur Geltung zu bringen, ohne sich dabei zu Feinden zu machen, dann werden auch keine Veränderungen möglich sein.«

Was würden Sie für den Umgang mit solchen konfliktären Situationen empfehlen?

Ich zitiere immer noch gerne aus Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität von Richard Sennett, wo der klassische Satz steht: »Heute kommt es nicht mehr darauf an, was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt.« Wir haben also mehr als früher die Einstellung, dass man nur ja niemandem wehtun darf, und das ist falsch. Ich merke das bis in den privaten Bereich hinein, wo ich den Eindruck habe, dass es bei manchen Menschen heute schwieriger ist als früher, zu verstehen, dass man sich sachlich durchaus heftig streiten kann, man sich aber danach besser als vorher versteht und nicht schlechter.

Das muss wieder oder überhaupt erst mal gelernt werden, statt, dass man ja nicht irgendwas anrührt, wo man Angst hat, andere zu verletzen. Streitkultur entwickeln, das ist der Punkt, und das fehlt im öffentlichen Raum hier in Deutschland massiv. Und wenn es nicht gelingt, diese Streitkultur wieder stärker zur Geltung zu bringen, ohne dass man sich gegenseitig dabei zu Feinden macht, dann werden logischerweise auch keine Veränderungen möglich sein. Veränderungen sind nur möglich, wenn Leute aufstehen und sagen: So geht’s nicht weiter, wir müssen Dinge anders machen. Und das werden bei jeder vernünftigen Veränderung natürlich am Anfang immer erst mal nur wenige sein und nicht die Mehrheit.

 

Was möchten Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben?

Ich hoffe sehnlichst, dass möglichst viele der jungen Menschen, die an wissenschaftlicher Beschäftigung mit gesellschaftlichen Veränderungen interessiert sind und die sich dafür mit einem hinreichend kritischen Impetus engagieren wollen, genügend persönliche Energie aufbringen und sich trotz des sich eher abschottenden wissenschaftlichen Mainstreams (gerade auch in den Wirtschaftswissenschaften) nicht abschrecken lassen. Dass diese Menschen da also mit frischen Ideen reingehen und versuchen, diese Auseinandersetzungen zu führen. Dabei sollten sie sich nicht opportunistisch verhalten, aber geschickt genug sein, dann auch akademische Positionen zu erringen, damit wir an den Hochschulen nicht nur, aber auch gerade in den Wirtschaftswissenschaften, wieder zu einer anderen Situation kommen.

Dafür muss man natürlich auch schauen: Bei wem promoviert man, wo versucht man sich zu bewerben? Wo knüpft man Kontakte, auf welche Konferenzen versucht man zu gehen? Wichtig ist, dass man versucht, sich ein Netz aufzubauen von Menschen, die einen bei so einem Weg unterstützen können, ohne dass man sich selber dabei zu sehr verbiegen muss. In manchen Fällen ist das eine echte Gratwanderung, und ich habe in meiner beruflichen Laufbahn hinreichend erlebt, wie groß die Kluft zwischen dem vermeintlichen Anspruch von jemandem und seiner*ihrer tatsächlichen beruflichen Praxis im akademischen Bereich sein kann. Das ist manchmal wirklich ein großes Problem. Und da ist allen nur zu wünschen, dass sie diese Gratwanderung mit genügend Rückgrat schaffen, ohne sich selber zu verbiegen. Da steht uns noch Einiges bevor.

 

Interview: April 2020