Im Gespräch mit
Uwe Schneidewind
Co-Autor von Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem
Lieber Uwe, was macht für dich den Kern transformativer Wissenschaft aus?
Bei transformativer Wissenschaft geht es um die Frage, inwiefern Wissenschaft die Welt nicht nur beobachtet, sondern durch ihr Handeln selbst auf die Gesellschaft zurückwirkt. Ziel ist, ein differenzierteres Verständnis des engen Zusammenspiels von Wissenschaft und gesellschaftlicher Transformation zu bekommen und zu erkennen, welche zentrale Bedeutung Wissenschaft gerade in modernen Wissensgesellschaften, in denen wir heute leben, für das politische und gesellschaftliche Handeln hat. Mit dem Konzept der transformativen Wissenschaft versucht man, dieses Spannungsverhältnis und dieses Miteinander in einer neuen Form zu rahmen.
Transdisziplinarität steht für eine Wissenschaft, die ihr Wissen an realen gesellschaftlichen Problemlagen ausrichtet und dafür versucht, die Wissensbestände sehr unterschiedlicher Disziplinen aufeinander zu beziehen und in der Regel auch das Wissen von Nicht-Wissenschaftler*innen, also das Praxis-, das Alltags-, das situative Wissen mit einzubeziehen. Es ist also die Integration sehr unterschiedlicher Wissensformen im Hinblick auf konkrete Problemlagen. Auch da erleben wir derzeit in der Corona-Krise sehr viele konkrete gesellschaftliche Herausforderungen: Wie bringe ich ökonomisches, epidemiologisches, psychologisches Wissen zusammen mit dem Wissen von Praktiker*innen aus der Politik, aus Wirtschaft und Gesellschaft, was ist den Bürger*innen zumutbar? So entsteht ein klassischer transdisziplinärer Wissensprozess, hier jetzt am Beispiel der Corona-Krise.
Uwe Schneidewind war bis Anfang 2020 Präsident des Wuppertal Instituts und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU). Seit September 2020 ist er Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Er ist Co-Autor von Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem und Autor von Die Große Transformation: Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.
Also würdest du Transdisziplinarität als eine Methode für transformative Wissenschaft sehen?
Der Begriff der transformativen Wissenschaft zielt mehr auf das grundsätzliche Miteinander von Wissenschaft und Gesellschaft, ist also eigentlich eher eine gesellschaftswissenschaftliche Kategorie. Da geht es darum, wie sich das Subsystem Wissenschaft zur Gesellschaft verhält und wie man über dieses Verhältnis nachdenken muss. Transdisziplinarität hingegen ist ein ganz konkreter Modus der Wissensproduktion, der dieses Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Wissenschaft lebendig werden lässt. Aber da findet man in der Debatte zum Teil sehr unterschiedliche Einordnungen.
Wir würden gern nochmal auf die Geschichte des Begriffs transformative Wissenschaft zurückkommen. Er wurde ja zum ersten Mal 2011 vom WBGU als »transformative Forschung« in die Debatte eingebracht, und dann 2013 von Euch in Eurem Buch Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem ausgebaut. Würdest du im Rückblick sagen, dass sich dieser Klimawandel in den letzten zehn Jahren tatsächlich eingestellt hat?
Ja, ich glaube, der hat schon stattgefunden. Es ist in den Anfangsjahren eindrucksvoll gewesen, welche Dynamik das ausgelöst hat, gerade durch das Einklinken der zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere des BUND und des zivilgesellschaftlichen Netzwerks Forschungswende.
Politisch hatten wir bis 2017 zum Teil sehr starke Unterstützung auf Landesebene, hier in Nordrhein-Westfalen oder in Baden-Württemberg. Diese politische Unterstützung hat inzwischen etwas nachgelassen. Durch die Politikwechsel auf Landesebene hat des Thema nicht mehr die gleiche Kraft wie Mitte der 2010er-Jahre. Im Bundesforschungsministerium war das Thema immer in der Abteilung 7, Nachhaltigkeitsforschung, durch Personen vertreten, die diese Ansätze sehr stark flankiert haben. Das hat auch entscheidend dazu beigetragen, dass zum Beispiel die sozial-ökologische Forschung fortgesetzt werden konnte.
Viele dieser Konzepte haben eine gewaltige Konjunktur erlebt und sind dabei inzwischen »normalisiert« worden. Das führt einerseits zu einer Aufweichung von Konturen, wenn Begriffe sehr viel allgemeiner benutzt werden. Vor kurzem wurde vom Hightech-Forum ein neues Papier zu »Nachhaltigkeit im Innovationssystem« veröffentlicht. Deren Forderungen decken sich zum großen Teil mit Vielem, was wir damals in 2013/14 auch gefordert haben und was damals noch sehr intensiv bekämpft wurde. Von daher ist an der Oberfläche sehr wohl ein Klimawandel zu erkennen.
Wenn man aber tiefer in die Institutionen hineinschaut, also welche Universitäten, welche Forschungseinrichtungen wirklich bereit sind, das auch in aller Konsequenz zur Landkarte für ihre Strategie und insbesondere Organisationsentscheidungen zu machen, dann merkt man, dass es mit dem Klimawandel doch noch nicht so weit her ist. In der Zusammenfassung: Das Wetter hat sich an einigen Stellen verändert, aber ob da schon ein systematischer Klimawandel dahintersteckt, muss sich in den kommenden Jahren noch zeigen.
Wir haben den Eindruck, dass auch der Begriff der Transformation gerade sehr häufig verwendet wird. Siehst du die Gefahr, dass das gerade ein bisschen zu einem Buzzword wird und dabei der Kern des Begriffs ausgehöhlt wird, wie es bei Nachhaltigkeit schon der Fall war?
Bei Transformation habe ich diese Sorge eigentlich nicht, weil der Begriff ja schon eine etablierte, gesellschaftswissenschaftliche Kategorie ist. Anders als der Begriff Nachhaltige Entwicklung, der in dieser Konnotation das erste Mal durch die Brundtland-Kommission aufgetaucht ist mit einem sehr konkreten normativen Gehalt, macht der Begriff Transformation eher deutlich: Wir müssen uns bei solchen fundamentalen Herausforderungen wie dem Klimawandel klar vor Augen führen, dass es eigentlich im Kern um gesellschaftliche Veränderungsprozesse geht. Da finde ich es eher positiv, dass der Perspektivwechsel stattfindet von naturwissenschaftlichen Systembeschreibungen hin zu einem aufgeklärteren Blick dazu, wie solche Transformationsprozesse ablaufen. Transformation ist eher Chiffre für den Veränderungsblick, und wenn der mehr benutzt wird, ist das eigentlich nur gut.
»Das Wetter hat sich an einigen Stellen verändert, aber ob da schon ein systematischer Klimawandel dahintersteckt, muss sich in den kommenden Jahren noch zeigen.«
Wobei ja der Begriff der sozial-ökologischen Transformation durchaus eine gewisse normative Konnotation hat.
In der Debatte um den Begriff wurde uns häufig vorgeworfen, dass wir zu prozessual sind und uns zu wenig mit der Frage auseinandersetzen: »Transformation wohin?« Dieser prozessuale Blick provoziert all diejenigen, die sich nur über die Zielzustände und das Wünschenswerte definiert haben. Unser Appell war: Wir müssen uns auch stärker dem besseren Verständnis der Transformationsprozesse an sich zuwenden. Darum gibt es aktuell auch keine normative Aufweichung für uns, weil wir es immer prozessual verstanden haben.
Aus der Transdisziplinaritätsforschung trifft uns der Vorwurf, dass wir dieses intellektuell und wissenschaftstheoretisch sauber ausgearbeitete System der Transdisziplinarität und der sozialökologischen Forschung zu stark popularisieren und damit auch verkürzen. Das ist immer wieder dieses schwierige Abwägen zwischen analytischer Klarheit, die in ihren Kategorien zum Teil überfordert und die keine Resonanz erzeugt, zugunsten von Resonanzfähigkeit, aber gewissen Tradeoffs in der Schärfe des Begriffs.
Ein anderer Begriff, den du in deinem Buch Die große Transformation geprägt hast, ist »Zukunftskunst«. Kunst wird oft eher als Gegenteil von Wissenschaft gesehen, was sich zum Beispiel in Formeln ausdrückt wie »It’s an art, not a science«. Du forderst explizit, dass auch die Wissenschaft Zukunftskunst entwickeln sollte. Wie wurde dieser Begriff der Zukunftskunst in der wissenschaftlichen Community angenommen?
»Zukunftskunst« ist unser deutsches Äquivalent für das englische »transformative literacy«. Ich finde diesen literacy-Begriff im Englischen sehr schön. Er beschreibt mehr als nur eine Technik des Lesens und Schreibens, sondern literacy erfordert auch extrem gutes Kontextverständnis. Gerade Sprachverwendung ist extrem kontextabhängig. Es geht also darum, wie ich Wissen über Systeme in meine Handlungspraxis übersetze. Da wird schon klar, dass für handlungsorientierte Arbeit neben expliziten Wissensformen, auf die wir uns in der Wissenschaft konzentrieren, auch ganz andere Wissensformen relevant sind. In der Kunst ist das ähnlich. Künstler*innen sind in der Regel in der Lage, den Kontext zu beobachten und dann durch das Schaffen des Kunstwerks in ästhetisierter Form Dinge auszudrücken, die im nicht-expliziten Bereich liegen. Insofern ist die Benutzung der Kunstmetapher auch ein Plädoyer für die Vielfalt von Wissensformen, die wir für das Orientieren in der Welt benötigen.
Es gibt inzwischen Bereiche der Wissenschaft, die sich dafür öffnen. In Teildisziplinen wie den Literaturwissenschaften, aber auch in vielen Geisteswissenschaften, sieht man schon die gewaltige Bedeutung von Narrativen und man spürt, dass ästhetisierende und künstlerische Formen der Wissensproduktion an Bedeutung gewinnen. Im Nachhaltigkeitsdiskurs hat das bisher eher in Randbereichen Einzug gehalten. Aber im öffentlichen Raum hat der Begriff eine hohe Resonanz erzeugt, auch im religiösen Bereich wurde er gut aufgenommen. Man spürt also: Der Begriff hat Resonanzpotenzial. Nun beobachten wir interessiert, wie er sich jetzt in den nächsten Jahren entwickeln wird.
»Für handlungsorientierte Arbeit sind neben expliziten Wissensformen, auf die wir uns in der Wissenschaft konzentrieren, auch ganz andere Wissensformen relevant.«
Du hast dich entschieden, im September als gemeinsamer Kandidat von CDU und Grünen für das Oberbürgermeister*innen-Amt in Wuppertal anzutreten. Dafür bist du als Präsident des Wuppertal Instituts zurückgetreten und hast auch die Mitgliedschaft im WBGU niedergelegt. Was hat dich zu diesem erstmal radikal erscheinenden Schritt bewogen?
Die Frage ist: Wie radikal ist der Schritt wirklich? Zunächst einmal hat das einfach damit zu tun, dass ich vor zehn Jahren in dieser fantastischen Stadt angekommen bin und mich hier extrem wohlfühle. Ich fühle mich sehr verbunden mit ganz vielen Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren Vieles auf den Weg gebracht habe. Für so eine Kandidatur musst du die Stadt, für die du kandidierst, lieben. Du musst die Menschen in ihr lieben und auch den Eindruck haben, dass du jemand bist, der glaubwürdig Katalysator für Veränderung sein kann. Inhaltlich steht die Kandidatur für mich in einer roten Linie, weil mich seit 20 Jahren diese Transformationsprozesse zu nachhaltigen, zukunftsfähigen Gesellschaften in meinem theoretischen und praktischen Arbeiten interessieren. Städte sind die Räume, in denen wir neue Zukünfte erproben können, die Laborcharakter haben, um dann auf Landes-, Bundes-, oder internationaler Ebene als Beispiele des Gelingens zu dienen.
Auf kommunaler Ebene ist man sehr nah dran an den Menschen und hat sofort einen Resonanzraum: Welche Form von Veränderungsprozessen ist gestaltbar? Eine Stadt wie Wuppertal verkörpert Vieles von dem, was das 21. Jahrhundert ausmacht: Demografischen Wandel, hohe Diversität, eine buntere Gesellschaft, eine ältere Gesellschaft, auch eine Gesellschaft unter begrenzteren materiellen Bedingungen und eine Gesellschaft, die sehr viel stärker angewiesen ist auf eine neue Bedeutung von Zivilgesellschaft. Die Grenzen zwischen politischem, unternehmerischem und gesellschaftlichem Engagement werden stark aufgeweicht.
Als dann dieses Angebot von zwei Parteien an mich herangetragen wurde, Transformation nun auf der »anderen Seite des Reallabors« mitgestalten zu können, da habe ich gespürt: Es gibt solche Momente des »Kairos«, da kann man einfach nicht »nein« sagen. Es ist natürlich auch ein besonderes Geschenk der aktuellen Lebensphase, in der ich mich befinde, mich einer solchen Aufgabe zu widmen, auf die sich andere in anderen Lebenssituationen nicht so leicht einlassen können. Ich nehme in der Außenreaktion wahr, dass viele sagen: Irgendwie speziell, aber spannend. Man bereichert mit einer solchen biografischen Wende, die eher untypisch ist, auch insgesamt einen Innovationsraum. Insofern ist das Transformation »at its best«, dieses Mal auf einer sehr persönlichen Ebene.
Durch Corona haben wir eine Renaissance der Wissenschaft sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in ihrem Einfluss auf die Politik erlebt. Welche Lehren kann die Wissenschaft aus diesen Entwicklungen ziehen, um dieses Momentum in die Post-Corona-Zeit mitzunehmen und auch bei Themen wie Klimawandel oder sozialer Ungleichheit mehr Gehör in der Politik, aber vor allem auch in der gesellschaftlichen Realität zu finden?
Corona bedeutet eine Zäsur. Das, was wir während dieser Zeit erlebt haben, spannt Möglichkeitsräume auf, hinter die wir in der kollektiven Erfahrung nicht zurückgehen können. Ich kenne das aus meiner Generation, da hatten wir 1973 die autofreien Sonntage. Gerade bei der etwas älteren Generation merke ich, dass diese Bilder, dass eine Autobahn ohne Autos grundsätzlich denkbar ist, vorher nicht Denkbares denkbar gemacht haben. Ähnliches erleben wir jetzt auch bei Corona. Dass man die Wirtschaft runterfährt, dass wir alle zuhause bleiben müssen, bei alldem hätte man sich nicht vorstellen können, dass das in einer offenen freiheitlich-demokratischen Gesellschaft durchgesetzt werden kann und die Bevölkerung mitgeht.
Gleiches gilt natürlich für die Politikrelevanz von Wissenschaft. Dieses Nicht-Hören auf Wissenschaft, wie wir das vor der Corona-Krise beim Klimaschutz und in anderen Bereichen erlebt haben, wird sehr viel schwieriger legitimierbar. Man wird auch Zahlen gegeneinanderstellen und sagen: Wir werden in diesem Jahr weltweit einige Hunderttausend Corona-Tote gehabt haben. Wir haben gleichzeitig jedes Jahr acht Millionen Hungertote. Wir haben für die Corona-Todesfälle, die wir verhindert haben, einen massiven volkswirtschaftlichen Einsatz geleistet. Das wird viele Diskussionen auslösen: Wie begründen wir künftig, dass die Rettung eines kleines Kind im Niger volkswirtschaftlich so völlig anders bewertet wird als die Rettung eines 90-Jährigen in Spanien? Diesen Diskussionen müssen wir uns stellen. Wir werden dadurch viele Kategorien etablieren, die politikrelevant werden und nicht einfach übergangen werden können. Dadurch entsteht ein breiter Raum, in einer ganz anderen Form über das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenleben, in verschiedenen Teilen der Welt und in künftigen Generationen, in Bezug zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Einschränkungen, die wir dafür in Kauf nehmen, diskutieren zu können. Darum wird es auch im Hinblick auf das Wissenschafts-Gesellschafts-Verhältnis ein vor und nach Corona geben.
»Auch im Hinblick auf das Wissenschafts-Gesellschafts-Verhältnis wird es ein vor und nach Corona geben.«
In Transformationstheorien wie der von Geels gibt es oft die Ebene des »external forcing«, die fundamentale Transformationen erst ermöglicht. Siehst du die aktuelle Situation als so ein externes Event, wie es zum Beispiel Fukushima ermöglicht hat, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt?
Ja, absolut. Wenn man alleine sieht, welche Form der Einschränkung und gesellschaftlichen Veränderungen mit Corona einhergegangen sind, stellt das Vieles von dem, was wir nach Fukushima oder auch Tschernobyl erlebt haben, in den Schatten. Wir werden das beim Wiederhochfahren merken, wie global systemisch sich diese Krise darstellt, auch durch die Asynchronität der Ereignisse zwischen den einzelnen Ländern. Von daher liegt das mindestens auf der Ebene der von Euch genannten externen Schocks.
Wir werden auf jeden Fall auch eine Diskussion über Systemrelevanz führen und über die Frage, worin wir Ressourcen und Steuermittel investieren. Ob man solche Transformationsgedanken schon in der akuten Krisenbekämpfung einflechten kann, wo es um Hunderttausende von Arbeitsplätzen geht, das ist fraglich. Dennoch ist es gut, mit einer längerfristigen Perspektive diese Frage des notwendigen Strukturwandels zu diskutieren Da sind wir aber erst ganz am Anfang der Debatte.
Was möchtest du jungen Menschen mit auf den Weg geben?
Im Hinblick auf das Wissenschaftssystem spürt man, dass die Veränderungsgeschwindigkeiten relativ gering sind, dass also konventionelle Kriterien weiterwirken bei zunehmender Offenheit für die transdisziplinären Bezüge. Daher ist allen zu empfehlen, wenn man im Wissenschaftssystem bleiben will, sich eine klare disziplinäre Basis zu sichern, aber früh von dieser Basis Brückenschläge zu versuchen. Letztlich ist es stark abhängig vom jeweiligen Fach, wie gut so etwas möglich ist. Es gibt Wissenschaftsdisziplinen mit einer derartigen Leistungsdichte, dass man nur mit 150 Prozent Energie und Fokus auf das disziplinäre Kernthema überhaupt eine Chance hat, im System unterzukommen. Andere Disziplinen hingegen lassen mehr Freiraum oder es hängt dann vom herausragenden individuellen Talent ab, beides gut kombinieren zu können. Wenn man im Hinblick auf die Studienwahl ein bisschen flexibel ist, sollte man daher schauen, welche Disziplinen da heute schon offener sind. Zum Beispiel Fächer wie die Geographie oder die Stadtwissenschaften haben ohnehin immer schon sehr problemorientiert gearbeitet.
Im Hinblick auf erweiterte Berufsfelder ist es meiner Meinung nach wichtig, dass man sehr stark in sich hinein hört. Was kann ich besonders gut? Was macht mich im Kern aus? Das ist ja das Schöne an diesen umfassenden Transformationsprozessen – man kann an so vielen Orten mitarbeiten, als Unternehmer*in, als Wissenschaftler*in, als Künstler*in, als engagierte*r Ökolog*in, oder in einem ehrenamtlichen Engagement im Quartier vor Ort oder in einem Umweltverband. Daher sollte man sich entlasten von dem Anspruch, die ganze Welt retten zu müssen. Die Große Transformation ist ein Projekt, das die Vernetzung ganz vieler Engagierter braucht. Man sollte sich also fragen: Wo ist das, was ganz aus meinem Herzen kommt, wo ich meinen Baustein leisten kann? Und sich gleichzeitig mit vielen anderen vernetzen, die in komplementären Feldern unterwegs sind. So weiß man, dass man Teil einer großen Veränderungsbewegung ist.
Das ist auch die Idee des Begriffs Zukunftskunst: Veränderung passiert am Ende durch eine kraftvolle innere Energie, die aus vielen Menschen kommt. Diese Energie ist durch etwas inspiriert, das nicht alleine vom äußeren Erfolg abhängig ist, sondern von dieser Idee, sich und sein Leben für etwas einbringen zu können, was größer ist als man selbst und wo man dadurch motiviert wird, dass man andere kennenlernt, die das in gleicher Form machen. Wenn man so eine Energie in sich kultiviert, dann steckt man andere an. Dann bewegt man etwas. Je größer der erdrückende Selbstanspruch wird, umso mehr droht auch diese Energie verloren zu gehen. Darum sollte man immer gut in sich hineinhören.
Interview: April 2020